Wenn Zweifel nicht zugelassen werden: Das Urteil des Landgerichts Gera gegen Anna K. wegen Rechtsbeugung
Der Grundsatz „in dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten – ist eine der zentralen Prozessmaximen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Im Rechtsstaat muss nicht der Angeklagte seine Unschuld beweisen, sondern der Staat die Schuld des Angeklagten. Gelingt das nicht, weil am Ende des Prozesses Zweifel bleiben, ist der Angeklagte freizusprechen.1 Die Geltung dieses Grundsatzes bedarf im Rechtsstaat keiner weiteren Begründung – er versteht sich von selbst. Dies berichtet Matthias Guericke vom Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte (KRiStA).
Weiter berichtet Guericke: "Was aber passiert, wenn Richter dem Zweifel keinen Raum mehr geben, wenn sie den Zweifel vom Tisch wischen oder ihn erst gar nicht aufkommen lassen? Wenn Richter sich selbst einreden, dass man dieses oder jenes, worauf es für die Verurteilung ankommt, nicht ernsthaft bezweifeln könne, obwohl man es bei kritischer Betrachtung sehr wohl könnte und daher auch müsste? Dann steht der Grundsatz „in dubio pro reo“ zwar immer noch auf dem Papier, aber er wirkt nicht mehr. Dann wird auch der unschuldige Angeklagte verurteilt.
Der Fall
Anna K. war Proberichterin am Amtsgericht Altenburg in Thüringen. Proberichterin seit fast 5 Jahren, sie hätte längst auf Lebenszeit ernannt sein müssen. Seit Anfang 2020 war sie neben der üblichen Dezernatsarbeit im besonderen richterlichen Bereitschaftsdienst tätig, der außerhalb der üblichen Dienstzeiten und an Wochenenden für Eilfälle (Haftbefehle, Unterbringungen, einstweilige Verfügungen etc.) des gesamten Landgerichtsbezirks zuständig ist.
Am 14.04.2020, es war die Zeit des ersten Corona-Lockdowns, erreichte sie im Bereitschaftsdienst der Antrag eines 70 km von Altenburg entfernt ansässigen Pfarrers auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen ein Pflegeheim, das dem Pfarrer den Besuch einer 89-jährigen, todkranken Pflegeheimbewohnerin verweigerte. Die Betroffene war 35 Jahre lang Mitglied der Kirchengemeinde des Pfarrers gewesen und wurde von ihm seelsorgerlich betreut. Sie wurde nur noch palliativ versorgt, war aber bei klarem Verstand. Das Pflegeheim berief sich gegenüber dem Pfarrer auf die aktuelle Thüringer Corona-Verordnung 2, die ein generelles Besuchsverbot in Einrichtungen der stationären Pflege vorsah. In besonders begründeten Ausnahmefällen konnte die Einrichtungsleitung zwar Ausnahmen zulassen, der Pfarrer war bei der Heimleitung aber auf taube Ohren gestoßen.
Im Infektionsschutzgesetz ist in § 30 Absatz 4 geregelt, dass auch im Falle einer behördlich angeordneten sog. Absonderung, d. h. der Isolierung von Erkrankten bzw. der Quarantäne von Ansteckungsverdächtigen, dem Seelsorger Zutritt zu den betroffenen Menschen gestattet werden muss. Daraus zog Anna K. den Schluss, dass dies erst recht im Fall der Pflegeheimbewohnerin gelten musste, gegen die gar keine Anordnung zur Absonderung ergangen war, sondern die „nur“ der Corona-Verordnung unterworfen war. Sie erließ die beantragte einstweilige Verfügung und der Pfarrer konnte die Pflegeheimbewohnerin besuchen. Fünf Wochen später starb sie. Die Entscheidung erregte Aufsehen. Die Tat des Pfarrers wurde in der Thüringer Presse gewürdigt und daran erinnert, dass er schon in der DDR mutig gestanden habe, „als sich andere abduckten“. 3 Das zuständige Ministerium forderte den Beschluss an und korrigierte die Corona-Verordnung. 4 Der Beschluss hatte über den konkreten Fall hinaus Positives bewirkt.
Das Problem an der Sache: Der Pfarrer war der Vater von Anna K. und deshalb hätte sie in dieser Sache nicht entscheiden dürfen. 5
Disziplinar- und Ermittlungsverfahren
Als der Direktor des Amtsgerichts Altenburg erfuhr, dass der Pfarrer Anna K.s Vater war – sie hatte nichts getan, um das zu verschleiern –, wurde gegen sie ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Mit Bescheid vom 23.03.2021 wurde Anna K. aus dem Richterverhältnis auf Probe entlassen und die sofortige Vollziehung angeordnet. Der Rechtsstreit um die Entlassung, genau genommen um die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs, endete ein Jahr später beim Bundesverfassungsgericht, das einigen Aufwand betrieb, um die Nichtannahme von Anna K.s Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung zu begründen. 6
Doch damit nicht genug. Der Ermittlungsführer im Disziplinarverfahren, seinerzeit Vizepräsident, heute Präsident des Landgerichts Gera, erstattete Strafanzeige wegen Rechtsbeugung. Da Anna K. in ihrer Proberichterzeit eine Zeit lang bei der Staatsanwaltschaft Gera tätig gewesen war, war diese der Auffassung, dass sie das Verfahren wegen „Befangenheit“ 7 nicht bearbeiten könne. Der Fall kam nach Erfurt und die Staatsanwaltschaft Erfurt erhob 2021 Anklage wegen Rechtsbeugung beim Landgericht Gera.
Da Anna K. aber auch am Landgericht Gera gearbeitet hatte, dort viele Kollegen und Kolleginnen persönlich kannte, lehnte sich eine Reihe von Richtern wegen Befangenheit selbst ab, d. h., sie brachten eine Selbstanzeige gem. § 30 StPO an. Es dauerte daher 19 Monate, bis über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung entschieden wurde. Die Verteidigung erhielt im Laufe der Zeit 21 verschiedene Besetzungsmitteilungen der zuständigen Strafkammer. Die Selbstanzeige der Vorsitzenden Richterin der zuständigen Strafkammer wurde für begründet erklärt. So kam es, dass eine junge Richterin, deren eigene Probezeit noch keine zwei Jahre zurücklag, den Prozess als Vorsitzende leiten musste.
Die Hauptverhandlung
Die Merkwürdigkeiten setzten sich in der Hauptverhandlung fort, die vom 18.04. bis 21.06.2024 an insgesamt sieben Verhandlungstagen stattfand und in der nicht nur der Vater der Angeklagten, seine Frau und die Leiterin des Pflegeheims, sondern auch der Direktor des Amtsgerichts Altenburg, der frühere Präsident des Landgerichts Gera, eine Reihe weiterer Justizmitarbeiter und Polizeibeamte 8 als Zeugen vernommen wurden.
Als Zeuge gehört wurde auch der jetzige Präsident des Landgerichts Gera, der Ermittlungsführer im Disziplinarverfahren gewesen war. Er erschien zu seiner Vernehmung 15 Minuten zu spät, was ihm keine Kritik eintrug; die Kammervorsitzende ging ihm vielmehr auf dem Flur vor dem Saal entgegen und begrüßte ihn mit Handschlag. Zur Verwunderung der Anwesenden erklärte er in seiner Vernehmung, dass er die (erfahrene) Vorsitzende Richterin der zuständigen Strafkammer bewusst in das Disziplinarverfahren einbezogen habe, um sie befangen zu machen und aus dem Strafverfahren herauszuhalten. 9 Über den Vater der Angeklagten, den er im Disziplinarverfahren als Zeugen vernommen hatte, sagte er, dieser sei ihm „vorgekommen wie ein typischer Betrüger“, eine Äußerung, die er nach Protesten aus dem Zuschauerraum zurücknahm. 10
Auf den Einwand der Verteidigung, die Angeklagte hätte zum Zeitpunkt ihres Beschlusses nach dem Mutterschutzgesetz gar nicht mehr im Bereitschaftsdienst eingesetzt werden dürfen, weil sie im vierten Monat schwanger war, gab er zu Protokoll, dass er von der Schwangerschaft erst am 15.04.2020, einen Tag nach Erlass des Beschlusses durch die Angeklagte erfahren habe, 11 und äußerte die Vermutung, die Angeklagte habe ihre Schwangerschaft absichtlich später mitgeteilt, um den Bereitschaftsdienst übernehmen zu können. 12 Aus der von der Verteidigung angeforderten Personalakte ergab sich allerdings, dass er eine E-Mail der Angeklagten vom 30.03.2020, in der sie ihre Schwangerschaft mitteilte und die ihm vorgelegt worden war, am 09.04.2020 persönlich abgezeichnet hatte. 13 Und ohne von der Vorsitzenden unterbrochen zu werden, legte er ausführlich dar, warum er als Ermittlungsführer den dringenden Tatverdacht einer Rechtsbeugung gesehen habe. 14
Dass die drei Berufsrichter, die von dem Präsidenten als ihrem Vorgesetzten dienstlich beurteilt werden – diese Beurteilungen sind entscheidend für den weiteren Karriereweg – sich davon nicht beeindrucken ließen, kann man glauben oder auch nicht. 15 Nachdem jedenfalls der Verteidiger in seinem Schlussplädoyer auf die Merkwürdigkeiten in der Aussage des Präsidenten hingewiesen hatte, ging die Vorsitzende bei der mündlichen Urteilsbegründung – ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang – zum Angriff auf die Verteidigung über und warf ihr vor, sie „habe ‚haltlose Unterstellungen‘ gegenüber dem Gericht und Zeugen erhoben, Narrative bedient, um andere Beteiligte zu diskreditieren und so die Gefahr des Vertrauensverlustes gegenüber der Justiz in Kauf genommen“. 16 Die Vorsitzende sah es offenbar als ihre Aufgabe, ihren Präsidenten zu verteidigen und als Aufgabe der Verteidigung, sich mit Kritik zurückzuhalten, damit keine Zweifel an der Justiz aufkommen – ein sehr fragwürdiges Verständnis von der Rolle der Verteidigung im Strafprozess. 17
Am 21.06.2024 wurde die Angeklagte wegen Rechtsbeugung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Zwei Monate davon gelten wegen der überlangen Verfahrensdauer als vollstreckt. Das Urteil (Aktenzeichen: 11 KLs 542 Js 23378/20) ist nicht rechtskräftig, die Verteidigung hat Revision eingelegt. Das schriftliche Urteil, das nicht veröffentlicht ist, umfasst nicht weniger als 98 Seiten – hier wollte es eine Strafkammer scheinbar ganz genau machen.
Die Frage des Vorsatzes
Da der äußere Geschehensablauf unstreitig ist, die Angeklagte aber von Beginn an erklärt hatte, ihr sei der gesetzliche Ausschlussgrund nach § 41 Nr. 3 ZPO bei Erlass des Beschlusses nicht bewusst gewesen, 18 ist, was den Sachverhalt (nicht die rechtliche Bewertung) anbelangt, die Frage nach dem Vorsatz entscheidend. 19
Unklare Feststellungen im Urteil
Zur Frage des Vorsatzes und der Motivation auf Seiten der Angeklagten liest man im Urteil (S. 21): „Die Angeklagte hat diesen Beschluss erlassen, obgleich sie es für möglich gehalten hat, wegen des verwandtschaftlichen Näheverhältnisses zu ihrem Vater im vorliegenden Verfahren ausgeschlossen zu sein und ihr die Bedeutung des Gebots der Unparteilichkeit bewusst gewesen ist, weil sie dem aus ihrer Sicht und dem (sic!) ihres Vaters gerechten Ergebnis – unter Außerachtlassung der zwingend zu beachtenden Verfahrensvorschriften – zur Geltung verhelfen wollte, und damit ihre eigenen Maßstäbe an Recht und Gesetz gestellt hat. 20 Daneben wollte sie ihrem Vater einen Gefallen tun und sich ihm gegenüber profilieren.“
Diese Feststellungen zum subjektiven Tatbestand sind lückenhaft. 21 Wenn die Kammer nur schreibt, dass die Angeklagte es „für möglich gehalten“ habe, vom Verfahren ausgeschlossen zu sein, 22 nicht aber, ob sie das billigend in Kauf genommen hat, dann könnten sowohl Vorsatz als auch Fahrlässigkeit gemeint sein. Die Kammer meint allerdings sicher Vorsatz, weil sonst eine Strafbarkeit gar nicht in Betracht käme. Dieser Fehler ist keine Kleinigkeit, denn in der Revision wird auf die Sachrüge geprüft, ob die Feststellungen den Schuldspruch, also die Verurteilung wegen Rechtsbeugung, tragen können. Und hier muss sich das Revisionsgericht aus dem Kontext zusammensuchen, was die Kammer sagen wollte, aber nicht gesagt hat. Verwirrend ist diese Feststellung, weil hinsichtlich des Ausschlusses nach § 41 Nr. 3 ZPO Eventualvorsatz kaum vorstellbar ist: Entweder der Angeklagten war die betreffende Vorschrift bei der Beschlussfassung präsent, dann handelte sie mit direktem Vorsatz, oder sie war ihr nicht präsent, dann handelte sie ohne Vorsatz, aber dass es ihr nur möglich erschien, dass sie von Gesetzes wegen vom Richteramt ausgeschlossen sein könnte, sie also § 41 Nr. 3 ZPO „erahnte“, diese Ahnung aber nicht durch einen Blick ins Gesetz in Wissen überführte, ist lebensfremd. An späteren Stellen im Urteil wird dann auch deutlich, dass die Kammer de facto von direktem Vorsatz der Angeklagten ausgeht.
Wie Vorsatz bewiesen werden kann
Vorsatz ist eine innersubjektive Tatsache. Da man nicht in den Kopf anderer Menschen hineinschauen kann, stellt sich die Frage, wie einem Angeklagten, der bestreitet oder schweigt, Vorsatz nachgewiesen werden kann. Es gibt Fälle, bei denen allein aus dem äußeren Tatgeschehen ein sicherer Schluss auf den Vorsatz gezogen werden kann. Sie sind eher selten. Wenn z. B. feststeht, dass der Täter einer vor ihm stehenden Person einen Schlag mit der Faust ins Gesicht versetzt hat, kann am Vorsatz zur Körperverletzung kein vernünftiger Zweifel bestehen. Lässt das äußere Tatgeschehen aber – wie oft – keinen eindeutigen Schluss auf den Vorsatz zu, kommt es auf weitere Indizien an. Solche Indizien können sich aus der Vor- oder Nachgeschichte der Tat, aus der Person des Täters oder seiner Einlassung zur Sache ergeben. Ob sie ausreichen, um jeden vernünftigen Zweifel am Vorsatz auszuräumen oder ob am Ende doch Zweifel verbleiben, ist die entscheidende Frage, über die sich das Gericht selbst bei der Entscheidungsfindung Rechenschaft ablegen muss.
Die Einlassung der Angeklagten
Die Angeklagte hat sich bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt geäußert. Im Disziplinarverfahren hat sie schon am 24.04.2020, also zehn Tage nach Erlass des Beschlusses, eine ausführliche Stellungnahme abgegeben. Diese wurde in der Hauptverhandlung verlesen, ist im Urteil vollständig wiedergegeben (S. 23–27) und soll hier hinsichtlich der entscheidenden Punkte referiert werden, damit sich der Leser – zumindest ansatzweise – ein eigenes Bild machen kann:
Wie bereits erwähnt, hat Anna K. erklärt, dass ihr zum Zeitpunkt der Beschlussfassung die Regelung des § 41 Nr. 3 ZPO nicht präsent gewesen sei. Sie habe mit ihrem Vater zwar darüber gesprochen, ob sie befangen sein könnte, sei aber zu dem Schluss gekommen, dass sie sich in ihrer Neutralität nicht beeinträchtigt sehe. Hauptargument sei dabei für sie gewesen, dass es nicht um ein privates Anliegen ihres Vaters gegangen sei, sondern um ein Anliegen als Pfarrer, das sie bei jedem anderen Pfarrer genauso geprüft hätte. Sie habe an dem Nachmittag des 14.04.2020 auch noch abklären wollen, ob es womöglich eine Schutzschrift des Pflegeheims gebe und habe deshalb beim Amtsgericht Jena und beim Amtsgericht Altenburg angerufen, aber bei fünf Anrufen – dass es die Anrufe gegeben hat, wird auch von der Kammer nicht bezweifelt – niemanden erreicht. Hätte sie einen Kollegen erreicht, wäre das Thema Befangenheit vielleicht aufgetaucht und ein Verweis auf § 41 ZPO hätte ihr die Augen geöffnet und sie „vor dieser Katastrophe bewahrt“.
Erst eine telefonische Nachfrage des Direktors des Amtsgerichts Altenburg am 22.04.2020, ob es sich bei dem Antragsteller um ihren Vater gehandelt habe – was sie noch guten Gewissens bestätigt habe – sei Anlass für sie gewesen, die Regelungen zur Befangenheit nochmal nachzuschlagen – „nur zur Absicherung“. Natürlich sei sie dann auf § 41 Nr. 3 ZPO gestoßen und sei „völlig überfahren und entsetzt“ gewesen, dass sie das übersehen habe. Sie habe auch keine wirklich befriedigende Erklärung dafür, wie ihr das habe passieren können. Neben der Eile und dem Zeitdruck, der im Bereitschaftsdienst nun einmal herrsche, sei sie „offenbar übermotiviert“ gewesen, wobei die „Übermotivation“ wahrscheinlich auch im Zusammenhang damit stehe, dass sie die Sache besonders gut habe machen wollen, „unbewusst vielleicht auch wegen der Vater-Kind-Beziehung“, gerade das, wovor die Regelung des § 41 ZPO schützen solle. Es habe wohl auch eine Rolle gespielt, dass sie sich um eine Aufgabe im Bereitschaftsdienst nicht habe „drücken“ wollen. Sie habe „einfach alles richtig machen“ wollen – „und habe dabei stattdessen das Grundlegendste falsch gemacht“. Wenn sie dieser Fehler ihre Zukunft als Richterin kosten würde, wäre das für sie das Ende eines Lebenstraumes.
In einer weiteren umfangreichen schriftlichen Stellungnahme vom 02.06.2020, in der sie zu dem inzwischen vorliegenden schriftlichen Bericht des Ermittlungsführers im Disziplinarverfahren Stellung nahm, hat sie ergänzt, dass sie in ihrer bisherigen beruflichen Tätigkeit schon eine Anzahl von Befangenheitsanträgen in Verfahrensakten gesehen habe. Es habe sich aber immer um solche gehandelt, bei denen es um (vermeintliche) Voreingenommenheit des Richters gegangen sei und nie um einen gesetzlichen Ausschluss wie in ihrem Fall. Und die Frage der (allgemeinen) Befangenheit habe sie sich ja durchaus gestellt. Um einem möglichen Verdacht der Voreingenommenheit vorbeugend entgegenzutreten, habe sie den Beschluss dann möglichst ausführlich begründet (Urteil, S. 28 f.).
In der Hauptverhandlung hat sie diese Einlassungen bekräftigt und ergänzend erklärt, dass sie, weil ihr Fehler ihr nicht bewusst gewesen sei, auch keinen Grund gesehen habe, etwas zu verschleiern. Sie habe in die Liste der im Bereitschaftsdienst bearbeiteten Fälle als Antragsteller den Namen ihres Vaters eingetragen. Sie habe bis zu ihrer Hochzeit auch unter diesem Namen in der Justiz gearbeitet. Die Liste habe sie an den Präsidialrichter am Landgericht Gera geschickt, dieser habe wissen können, wie ihr Geburtsname gelautet habe. (Urteil, S. 45)
Die Einlassung der Angeklagten wurde in einigen Punkten durch die Aussage des Direktors des Amtsgerichts Altenburg bestätigt, der laut der Einlassung der Angeklagten den Anstoß gegeben haben soll, dass sie ihren Fehler entdeckte. Dieser Zeuge erklärte, er habe von dem Beschluss der Angeklagten erfahren, zunächst aber nicht gewusst, dass der Vater der Angeklagten beteiligt gewesen sei. Davon habe er erst im Gespräch mit ihr erfahren. Er habe Kenntnis davon gehabt, dass sie aus einem Pfarrershaushalt stammte, auch ihr Geburtsname sei ihr bekannt gewesen. Er habe sie dann wohl gefragt, dass er hoffe, dass der Antragsteller nicht ihr Vater gewesen sei. Sie habe das aber bestätigt. Er wisse nicht mehr, ob sie überrascht gewesen sei. Er wisse noch, dass sie überzeugt gewesen sei, dass sie für jeden anderen auch so gehandelt hätte. Sie habe den Eindruck gemacht, dass sie überzeugt gewesen sei, etwas Richtiges getan zu haben. (Urteil, S. 78 f.)
Die schriftlichen Stellungnahmen der Angeklagten, ihre Erklärung in der Hauptverhandlung, die Aussage des Direktors des Amtsgerichts Altenburg und der in der Hauptverhandlung von der Angeklagten gewonnene persönliche Eindruck ist alles, worauf sich das Gericht bei der Beantwortung der Frage, ob der Angeklagten der gesetzliche Ausschluss vom Richteramt gem. § 41 Nr. 3 ZPO bewusst war oder nicht, stützen konnte. Sämtliche anderen Zeugenvernehmungen und verlesenen Urkunden waren hinsichtlich dieser Frage unergiebig. Aus den Zeugenaussagen des Vaters der Angeklagten und seiner Ehefrau ergab sich nichts, was die Einlassung der Angeklagten hätte widerlegen oder zumindest in Zweifel ziehen können, und dies wird auch im Urteil nicht behauptet.
Schlussfolgerungen
Die Frage, die die Kammer beantworten musste, war nicht, ob sie der Einlassung der Angeklagten Glauben schenkt, sondern ob sie sie zweifelsfrei widerlegen kann. Auf diese Unterscheidung kommt es an, denn eine Behauptung, die unglaubhaft erscheint, ist damit noch nicht als falsch erwiesen. 23
Da die Zeugenvernehmungen und die sonstige Beweisaufnahme nichts ergeben haben, was zur Widerlegung geeignet wäre, müsste die Einlassung durch sich selbst widerlegt werden können. Da sie aber in sich widerspruchsfrei ist, wäre dies wiederum nur dann möglich, wenn es einen Erfahrungssatz geben würde, nach dem sicher auszuschließen wäre, dass jemals (!) auch nur einem (!) Richter der gesetzliche Ausschlussgrund des § 41 Nr. 3 ZPO nicht präsent sein könnte. Gibt es einen solchen Erfahrungssatz?
Es gibt ihn nicht. Zwar mag einerseits der Ausschluss vom Richteramt in Sachen, an denen ein Elternteil beteiligt ist, als Selbstverständlichkeit erscheinen. Andererseits sind die Fälle des § 41 Nr. 3 ZPO so selten, dass man als Richter durch ein ganzes Berufsleben gehen kann, ohne auch nur einmal mit einem solchen Fall konfrontiert zu werden. Mit Fragen (möglicher) Befangenheit (§ 42 ZPO) hat dagegen jeder Richter regelmäßig zu tun. Hätte die Angeklagte erklärt, der Umstand, dass der Antrag vom eigenen Vater kam, hätte bei ihr keine Frage nach möglicher Befangenheit ausgelöst, wäre dies in der Tat so lebensfremd, dass es – ohne dass hier noch Raum für Zweifel bliebe – als Falschbehauptung zu beurteilen wäre. Die Angeklagte hat aber erklärt, dass sie den Sachverhalt im Hinblick auf die Befangenheitsvorschrift des § 42 ZPO erwogen und geprüft habe; nur an § 41 ZPO habe sie nicht gedacht. 24 Danach hätte ihr sozusagen § 42 ZPO den Blick auf § 41 ZPO verstellt. Dass dies (im Ausnahmefall) passieren kann, erscheint vor allem deshalb nicht vollkommen unplausibel, weil Ausschließungsgründe als Spezialfälle der Befangenheit verstanden werden können. Sie bezeichnen Sachverhalte, bei denen der Verdacht mangelnder Neutralität und Unparteilichkeit so verdichtet ist, dass das Gesetz – anders als in den Fällen des § 42 ZPO – keine Prüfung mehr im konkreten Fall vorsieht, sondern der Richter absolut von der Ausübung seines Amtes ausgeschlossen ist.
Nimmt man die konkreten Umstände des Falles dazu, wird noch klarer: Es kann nicht per se ausgeschlossen werden, dass eine „übermotivierte“ Proberichterin in einer Sache, an der zwar ihr Vater beteiligt ist, bei der es aber nicht um dessen persönlichen Vorteil geht, gerade ihre richterliche Neutralität in der Sache beweisen will, ohne im entscheidenden Moment daran zu denken, dass sie diesen Beweis aus Gründen des Gesetzes gar nicht antreten darf.
Damit kann die Einlassung der Angeklagten nicht zweifelsfrei widerlegt werden, woraus nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ zwingend ein Freispruch hätte folgen müssen. 25
Die Frage nach der Wahrscheinlichkeit der Alternative zu einem unwahrscheinlichen Geschehensablauf
An dieser Stelle soll noch Folgendes ergänzt werden:
Wenn ein Gericht dazu tendiert, einen bestimmten Geschehensablauf A „nach der Lebenserfahrung“
26
für ausgeschlossen zu halten, muss es prüfen, ob es den dann
anzunehmenden alternativen Geschehensablauf B für weniger ausgeschlossen
hält, und zwar mit allen mit B verbundenen Implikationen. Erscheint B
bei dieser Betrachtung aber ähnlich unwahrscheinlich wie A oder sogar
unwahrscheinlicher, heißt das, dass das Argument mit der Lebenserfahrung
nicht stimmen kann und A als Möglichkeit doch nicht auszuschließen ist.
Im Fall von Anna K. bedeutet das: Wenn ihr der gesetzliche Ausschluss als Richterin zum Zeitpunkt der Beschlussfassung bewusst war, musste ihr zugleich bewusst sein, dass sie ihre Richterlaufbahn damit aufs Spiel setzte. Denn es war absehbar, dass der Beschluss nicht im Verborgenen bleiben, sondern Aufmerksamkeit (nicht nur) in der Justiz erregen würde. Es war aufgrund der genannten Umstände auch absehbar, dass nicht verborgen bleiben würde, dass der Antragsteller ihr Vater war. Und es war absehbar, dass der Gesetzesverstoß ein Disziplinarverfahren nach sich ziehen würde, selbst dann, wenn es ihr gelingen sollte, ihre Vorgesetzten davon zu überzeugen, dass sie den gesetzlichen Ausschluss übersehen habe. Denn auch fahrlässig begangen, ist ein Verstoß gegen die gesetzlichen Ausschlussregeln ein gravierender Vorgang (für ihre Entlassung reichte dem Dienstherrn der Fahrlässigkeitsvorwurf!). Und dass sie als Proberichterin in keiner gesicherten Position war, musste ihr auch bewusst sein. Dies alles hätte nur jemand übersehen bzw. nicht ernst nehmen können, der, von der Realität abgehoben, sich selbst für unverwundbar hält. Dafür, dass Anna K. eine solche Richterin war, gibt es aber nicht nur keine Anhaltspunkte, ihre Einlassung spricht klar dagegen.
Ist es also vorstellbar, dass Anna K. ihre berufliche Existenz als Richterin (ihrem Traumberuf!) bewusst aufs Spiel gesetzt hat, um ihrem Vater den Besuch eines Gemeindemitgliedes zu ermöglichen? 27, präziser gefragt: Ist dies wahrscheinIicher, als dass sie den gesetzlichen Ausschlussgrund übersehen hat? Diese Frage kann – jedenfalls nach Auffassung des Autors – nicht mit Ja beantwortet werden. Die Kammer hat sie – wenig überraschend – gar nicht gestellt.
Die Begründung des Vorsatzes im Urteil
Die Feststellungen zur Person der Angeklagten und zur Sache umfassen in dem schriftlichen Urteil 48 Seiten, die Beweiswürdigung 41 Seiten. Auf 33 Seiten der Beweiswürdigung erklärt die Kammer in großer Ausführlichkeit, wie sie zu ihren Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen, zur Vorgeschichte der Tat und zum Nachtatgeschehen gelangt ist, wobei dies alles entweder unproblematisch, weil es der Einlassung der Angeklagten entspricht, oder für die Frage der Tatbestandsverwirklichung irrelevant ist. Dann aber muss es offenbar schnell gehen. Um zu begründen, warum sie davon überzeugt ist, dass der Angeklagten der gesetzliche Ausschluss bewusst war, braucht die Kammer nur zwei Seiten (S. 83–85), wobei das Ergebnis schon nach einer Seite feststeht. Auf diesen zwei Seiten hat eine differenzierte Bewertung der Stellungnahmen der Angeklagten im Disziplinarverfahren und ihrer Einlassung in der Hauptverhandlung keinen Platz. Auch die Aussage des Direktors des Amtsgerichts Altenburg, die die Einlassung der Angeklagten in durchaus wesentlichen Punkten bestätigt, wird nicht gewürdigt. Nicht ein einziges Argument, das zugunsten der Glaubhaftigkeit der Einlassung der Angeklagten sprechen könnte, wird von der Kammer angeführt und diskutiert. Stattdessen werden, beinahe stakkatohaft, die Argumente aufgezählt. Sie lauten – unverkürzt – wie folgt:
Der Ausschluss eines Richters sei ein grundlegendes Prinzip, in allen Verfahrensordnungen verankert und allgemein bekannt. Die Angeklagte sei schon fast 5 Jahre in der Justiz tätig gewesen. Nach ihrer Einlassung sei ihr die Problematik des gesetzlichen Ausschlusses auch grundsätzlich bekannt gewesen. Dass ihr das zum Tatzeitpunkt nicht präsent gewesen sei, sei nicht glaubhaft. Sie habe selbst eingeräumt, dass sie über die Frage der Befangenheit nachgedacht habe. Und schließlich wörtlich: „Die Kammer ist davon überzeugt, dass die Angeklagte in Anbetracht ihrer sonstigen Recherchetätigkeiten, in einer solchen Situation, dann, wenn ihr der gesetzliche Ausschluss tatsächlich gerade nicht präsent gewesen wäre, nach den einschlägigen Vorschriften gesucht hätte.“
Das ist die ganze Begründung. Die Kammer sagt: Entweder der gesetzliche Ausschluss war der Angeklagten ohnehin von Anfang an präsent oder sie hätte jedenfalls vor Erlass des Beschlusses nach den einschlägigen Vorschriften gesucht und dann wäre ihr der Ausschluss bewusst geworden. Warum ist die Kammer davon (zweifelsfrei!) überzeugt, dass die Angeklagte im Gesetz nachgeschlagen hätte? Antwort: Weil die Angeklagte auch sonst viel recherchiert hat!
Dass das Suchen nach bestimmten Vorschriften eine Frage voraussetzt, die Angeklagte aber nach ihrer Einlassung der Auffassung war, sich die Frage der Befangenheit beantwortet zu haben, wird von der Kammer nicht gesehen. Es fehlt auch jede Reflexion darauf, unter welchen Umständen sich überhaupt zweifelsfrei (!) sagen lässt, wie jemand in einer bestimmten Situation gehandelt hätte und ob dies nicht oft und auch in diesem Fall eine Kenntnis innerpsychischer Vorgänge bei der betreffenden Person voraussetzen würde, die kein Mensch und daher auch kein Richter für sich in Anspruch nehmen kann. Stattdessen erhebt die Kammer eine bloße Vermutung zur Gewissheit. Dies ist kein Akt der Erkenntnis, sondern des Willens: Die Kammer ist überzeugt, weil sie es sein will.
Die Frage des Taterfolges
Selbst wenn die Angeklagte vorsätzlich gegen § 41 Nr. 3 ZPO verstoßen hätte, stünde damit noch nicht fest, dass der Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllt ist.
Zunächst, noch vor der Frage des Taterfolges, müsste feststehen, dass die Rechtsverletzung im konkreten Fall das erforderliche Gewicht für einen „elementaren Rechtsverstoß“ hatte. 28 Das ist nicht zweifelsfrei, denn nach der Rechtsprechung des BGH kann dies nicht allein durch eine Bewertung des Gewichts der verletzten Rechtsnorm, sondern nur in einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände entschieden werden. Und bei dieser Gesamtbetrachtung wäre zu berücksichtigen, dass Anna K. mit ihrem Beschluss immerhin ein eklatantes, Grundwerten einer menschlichen Gesellschaft widersprechendes Unrecht beendet hat. Es ließe sich daher sehr gut vertreten, dass es – trotz der fundamentalen Bedeutung der Regelung des § 41 Nr. 3 ZPO, die hier nicht in Abrede gestellt werden soll – bereits an einem elementaren Rechtsverstoß fehlt.
Aber auch wenn man dies anders bewerten würde, bliebe die Frage, ob auch der tatbestandliche Erfolg eines unrechtmäßigen Vor- oder Nachteils auf Seiten einer Partei eingetreten ist. 29 Bei einer Verletzung des Verfahrensrechts – wie hier – verlangt der Bundesgerichtshof dafür, dass der Verstoß zumindest zu einer konkreten Gefahr einer falschen Entscheidung, d. h. eine das materielle Recht verletzende Entscheidung geführt hat. Liegt der Verfahrensverstoß in einer Zuständigkeitsanmaßung, ist nach der Rechtsprechung des BGH von einer solchen konkreten Gefahr dann auszugehen, wenn der Richter die Zuständigkeit aus sachfremden Motiven an sich gezogen hat. 30 Denn eine Zuständigkeitsanmaßung aus sachfremden Motiven legt nahe, dass auch bei der Entscheidung selbst sachfremde Motive eine Rolle gespielt haben könnten, so dass die (konkrete) Gefahr einer falschen Entscheidung bejaht werden kann. 31
Es käme also darauf an, der Angeklagten – vorausgesetzt, ihr war der gesetzliche Ausschluss vom Verfahren bewusst – eine sachfremde Motivation nachzuweisen. Die Kammer führt dafür zwei Argumente an: 32 Zum einen habe die Angeklagte die Vorschriften zum gesetzlichen Ausschluss verletzt, um „dem aus ihrer Sicht und dem (sic!) ihres Vaters gerechten Ergebnis zur Geltung zu verhelfen“, zum anderen habe sie „ihrem Vater damit einen Gefallen tun und sich ihm gegenüber profilieren wollen.“
An dieser Stelle wird es geradezu kurios, denn die Kammer zieht nicht in Zweifel, dass das „gerechte Ergebnis“ aus Sicht der Angeklagten auch das materiellrechtlich richtige sein sollte und hält den Beschluss im Ergebnis auch zumindest für vertretbar. Damit bewertet sie aber die Absicht, eine richtige Entscheidung herbeizuführen, die der Schaffung der Gefahr einer falschen Entscheidung exakt entgegensteht, als sachfremde Motivation! Die Kammer hat ganz offensichtlich nicht verstanden, warum der Bundesgerichtshof bei der sog. Zuständigkeitsanmaßung eine sachfremde Motivation verlangt und sie hat nicht verstanden, was „die Sache“ ist, an der sich die Frage der sachfremden Motivation entscheidet.
Die Begründung für die weitere Behauptung, die Angeklagte sei auch von dem Wunsch motiviert gewesen, ihrem Vater einen Gefallen zu tun und sich ihm gegenüber zu profilieren, soll nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Die Kammer gerät auch hier in einen argumentativen Irrgarten und kann die Behauptung letztlich nicht begründen, sie bleibt eine Unterstellung. 33
Fazit
Das Fazit ist ein Dreifaches:
Das Urteil zeigt zunächst, dass die Kammer mit dem Tatbestand des § 339 StGB überfordert war. Man muss es noch deutlicher sagen: Es ist erschreckend, dass es möglich ist, dass Richter bzw. Richterinnen auf einem solchen juristischen Niveau über einen so schwerwiegenden Vorwurf gegen eine (ehemalige) Kollegin entscheiden.
Dies erklärt – zweitens – aber nicht, wie die Kammer zur Bejahung des Vorsatzes gelangt ist. Dass die Kammer bei einer der entscheidenden Fragen des Verfahrens, die von vornherein als solche zu erkennen war, auf einmal knapp und apodiktisch wird, kein Pro und Contra erwogen, sondern nur noch das Contra festgestellt und schließlich eine bloße Spekulation zur Gewissheit erhoben wird, erweckt den Eindruck, dass hier keine Zweifel zugelassen werden sollten. Dafür wird es verschiedene Gründe geben. Die noch junge Richterin, die wegen Befangenheit der Kammervorsitzenden die Verhandlung leiten musste, musste mit dieser Aufgabe im Grunde überfordert sein – wobei dies keine Entschuldigung sein soll; es hätte an sich, gerade im Hinblick auf mögliche Zweifel, eine besondere Sorgfalt zur Folge haben müssen. Dass der Dienstvorgesetzte der drei Berufsrichter der Kammer in seiner Vernehmung ausführlich zu Protokoll gab, warum er den Tatbestand der Rechtsbeugung im Disziplinarverfahren bejaht hat, hat den Mut zum Zweifel sicher auch nicht gestärkt.
Vielleicht gibt es aber auch noch eine Erklärung auf einer tieferen Ebene. So selbstverständlich der Grundsatz „in dubio pro reo“ bei oberflächlicher Betrachtung erscheinen mag, so sehr ist er Ausdruck einer Anerkennung der Würde auch des Angeklagten – ungeachtet der Schwere des jeweiligen Tatvorwurfs – und Ausdruck einer Selbstbeschränkung des Staates, die so selbstverständlich gar nicht sind. Aus der Perspektive des Staates bedeutet der Zweifelsgrundsatz: Es ist besser, 99 Schuldige laufen zu lassen, als einen Unschuldigen zu verurteilen. Wenn sich aber autoritäres Denken in Staat und Gesellschaft ausbreitet – und dass dies der Fall ist, wird nicht erst seit der Corona-Krise von ganz verschiedenen Seiten diagnostiziert – schwindet die Plausibilität dieses menschenfreundlichen und liberalen Prinzips. Dann kann es passieren, dass es nicht mehr die unerschütterliche, keiner Abwägung zugängliche Maxime richterlichen Handelns ist, dass kein Unschuldiger verurteilt werden soll. Der Schutz des Unschuldigen vor der Verurteilung ist dann – ohne dass das reflektiert würde – nur noch ein Ziel neben anderen, insbesondere dem staatlichen Interesse an der Strafverfolgung. Ist so aber erst einmal die absolute Geltung des Zweifelsgrundsatzes in Frage gestellt, machen sich Richter nicht mehr auf die Suche nach dem Zweifel, vor allem dann nicht, wenn sie ein besonders gewichtiges staatliches Interesse an der Verfolgung der mutmaßlichen Tat zu erkennen meinen. Dann wird nicht mehr intensiv geprüft, ob die Argumente für eine Verurteilung jeder Kritik standhalten oder nicht, sondern das Denken wird diffus, die Argumente verschwimmen und eine bloße Vermutung kann auf einmal zur Überzeugung erklärt werden.
Das dritte Fazit ist ein Nachtrag: Das Gericht hat sich geweigert, sich auf den Lebenssachverhalt, um den es in dem Beschluss von Anna K. ging, einzulassen. Jeder Nichtjurist würde denken, dass die Geschichte der 89-jährigen Pflegeheimbewohnerin, die auf den Tod zuging und von ihrem Pfarrer wegen einer verfassungswidrigen Corona-Regelung nicht besucht werden durfte, in dem Strafverfahren gegen die entscheidende Richterin einen wichtigen Platz haben müsste. Aber Fehlanzeige! Der Vertreter der Staatsanwaltschaft Erfurt hat es in seinem Schlussplädoyer freiwillig-unfreiwillig bekannt, als er behauptete: „Es geht nicht um Corona oder eine alte Frau. Es geht um die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Richters.“
Das ist die traurige Wahrheit über die Staatsanwaltschaft: Ob durch das Handeln der Angeklagten Menschen Gutes getan oder Schaden zugefügt wurde, ob das vom Freistaat Thüringen angeordnete Besuchsverbot verhältnismäßig war oder verfassungswidrig, interessiert sie nicht. Das einzige, was sie interessiert, ist, dass die Angeklagte diesen Beschluss nicht erlassen durfte. Wie die Justiz in das Leben der Menschen eingreift, ist für die Staatsanwaltschaft irrelevant, wichtig ist nur, dass dabei die Verfahrensvorschriften eingehalten werden. 34
Nichts anderes gilt für die Kammer. Sie kann die gute Absicht und die positiven Folgen des Handelns der Angeklagten nicht würdigen, weil damit auch die Frage nach der Menschlichkeit dieses Strafverfahrens aufgeworfen würde, der sie sich nicht stellen kann. 35 Dass es der Angeklagten in der Sache um ein gerechtes Ergebnis ging, wie die Kammer ihr selbst zugesteht, wird ihr als „sachfremde Motivation“ zur Last gelegt. Das Ziel der Gerechtigkeit wird ihr von der Kammer zum Vorwurf gemacht.
Auch in den Strafzumessungserwägungen tauchen Intention und Folgen des Handelns der Angeklagten an keiner Stelle als strafmildernde Gesichtspunkte auf. Der Angeklagten wird zugutegehalten, dass sie nicht vorbestraft ist, dass sie als Mutter haftempfindlich ist, sie die äußeren Abläufe eingeräumt hat, ihr berufliche Konsequenzen hinsichtlich ihrer Anwaltszulassung drohen und dass die Tat schon über vier Jahre zurückliegt. Dass sie aber mit dem Beschluss, den sie nicht erlassen durfte, einen unmenschlichen Umgang mit der Pflegeheimbewohnerin beendet, einem Pfarrer die Seelsorge ermöglicht und der Thüringer Landesregierung den Anstoß gegeben hat, eine verfassungswidrige Regelung in einer Corona-Verordnung zu korrigieren, was alles zwingend bei der Strafzumessung zu berücksichtigen wäre – dazu verliert die Kammer kein Wort. Die Kammer schafft es, dies alles auszublenden und sich allein auf die Verletzung einer Verfahrensvorschrift zu konzentrieren. Es ist kein menschliches Gesicht, das die Justiz in diesem Verfahren gezeigt hat."
Endnoten
- 1
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (z. B. BGH NStZ 88, 236) genügt für eine Verurteilung ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr aufkommen. Mathematische Gewissheit wird nicht verlangt. - 2
§ 9 Abs. 2 Zweite Thüringer SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung vom 07.04.2020. - 3
Debes, Zwischenruf: Staat und Vormund, Thüringer Allgemeine vom 21.04.2020. Auch die Ärztezeitung berichtete darüber. - 4
Ab dem 04.05.2020 hieß es in § 9 Dritte Thüringer SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung vom 18.04.2020: „Für stationäre Einrichtungen der Pflege und (…) gilt zum Schutz der Bewohner ein generelles Besuchsverbot. In besonders begründeten Ausnahmefällen kann die Leitung der Einrichtung Ausnahmen zulassen; die Zutrittsrechte für Seelsorger und Urkundspersonen sind entsprechend § 30 Abs. 4 Satz 2 IfSG zu gewährleisten.“ – Das Ministerium hatte also exakt die Argumentation der Angeklagten mit § 30 Abs. 4 Satz 2 IfSG übernommen. - 5
§ 41 Nr. 3 Zivilprozessordnung: „Ein Richter ist von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen: (…) 3. in Sachen einer Person, mit der er in gerader Linie verwandt oder verschwägert, in der Seitenlinie bis zum dritten Grad verwandt oder bis zum zweiten Grad verschwägert ist oder war“. - 6
BVerfG, 09.03.2022, 2 BvR 91/22, juris sowie BVerfG, Beschluss vom 09.03.2022 – 2 BvR 91/22 – openJur. - 7
Befangenheit steht hier in Anführungszeichen, weil es für Staatsanwälte keine Befangenheitsvorschriften gibt. Staatsanwälte können nicht wegen Befangenheit abgelehnt werden. - 8
Auch bei Anna K. hatte im Ermittlungsverfahren eine Wohnungsdurchsuchung stattgefunden. - 9
Bayer, Altenburger Richterin verurteilt – „Die Merkwürdigkeiten setzen sich fort“, Leipziger Volkszeitung vom 21.06.2024. – Die meisten hier zitierten Zeitungsartikel sind hinter einer Bezahlschranke. - 10
Melzer, Ein Urteil, das Unbehagen bereitet, Zeit-Online vom 22.06.2024. - 11
Bayer, Prozess um Altenburger Richterin: Jetzt spricht erstmals die angeklagte Juristin, Leipziger Volkszeitung vom 19.06.2024. - 12
Hein/Rosenkranz/Haegeler, Ex-Richterin aus Altenburg durfte keinen Bereitschaftsdienst haben, Leipziger Volkszeitung vom 30.05.2024. - 13
Urteil, S. 6. – Dort wird auch festgestellt, dass die Angeklagte dem Präsidialrichter des Landgerichts bereits im Februar die Schwangerschaft mitgeteilt hatte. - 14
Aufgabe des Zeugen ist es, über Tatsachen zu berichten, nicht aber, seine eigene rechtliche Bewertung eines Sachverhaltes mitzuteilen. Die rechtliche Bewertung ist Aufgabe des Gerichts. - 15
Selbstverständlich hätten sie sich als unabhängige Richter nicht davon beeinflussen lassen dürfen. In richterlicher Unabhängigkeit getroffene Entscheidungen dürfen vom Dienstvorgesetzten auch nicht in dienstlichen Beurteilungen bewertet werden. - 16
Dies berichtet Legal Tribune Online von der Urteilsverkündung: Podolski, LG Gera verkündet Urteil gegen Proberichterin: „Eigene Maßstäbe um jeden Preis“, LTO vom 21.06.2024. - 17
Dieser Angriff auf die Verteidigung erscheint geradezu verstörend, wenn man den Verteidiger, Rechtsanwalt Jörg Geibert, kennt. Er war als CDU-Politiker in Thüringen Staatssekretär im Innenministerium, später Innenminister einer CDU-geführten Landesregierung und ist aktuell Mitglied des Thüringer Verfassungsgerichtshofs. Er wird in Thüringen über die Parteigrenzen hinweg als integre Persönlichkeit geschätzt und ist in seinem Auftreten – und das war auch in der Hauptverhandlung so – geradezu die Besonnenheit und Höflichkeit in Person. - 18
Dies wird im Folgenden noch ausführlich dargestellt. - 19
Der Vorsatz muss sich darauf richten, das Recht zum Vor- oder Nachteil einer Partei zu verletzen. Hier geht es zunächst nur um den Vorsatz hinsichtlich der Rechtsverletzung, die Frage des Vor- oder Nachteils wird weiter unten behandelt. - 20
Wer über den letzten Halbsatz beim Lesen gestolpert ist, liegt nicht falsch: Man kann Maßstäbe an etwas anlegen, aber nicht Maßstäbe an etwas stellen. Der sprachliche Fehler erklärt sich wohl daraus, dass die Kammer in fehlerhaft verkürzter Form auf die Rechtsprechung des BGH zu § 339 StGB Bezug nimmt: Der BGH (21.01.2021, 4 StR 83/20, juris; st. Rspr.) formuliert: „… § 339 erfasst deshalb nur Rechtsbrüche, bei denen sich der Richter oder Amtsträger bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache bewusst in schwerwiegender Weise zugunsten oder zum Nachteil einer Partei von Recht und Gesetz entfernt und sein Handeln als Organ des Staates statt an Recht und Gesetz an eigenen Maßstäben ausrichtet.“ Aus „sein Handeln … statt an Recht und Gesetz an eigenen Maßstäben ausrichtet“ wird bei der Kammer „ihre eigenen Maßstäbe an Recht und Gesetz gestellt hat.“ Der Fehler wiederholt sich auf S. 83 des Urteils. Ob die Kammer überhaupt verstanden hat, was der BGH mit der Formulierung meint, muss danach bezweifelt werden. - 21
Für die Nichtjuristen unter den Lesern einige notwendige Erläuterungen zum Vorsatz: Es werden grundsätzlich drei Formen des Vorsatzes unterschieden: Absicht (sog. dolus directus 1. Grades): der Täter strebt die Verwirklichung des Taterfolges an, Wissentlichkeit (sog. dolus directus 2. Grades: der Täter strebt den Taterfolg nicht an, weiß aber sicher, dass er als Folge seines Handelns eintreten wird und schließlich Eventualvorsatz (sog. dolus eventualis). Eventualvorsatz heißt in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass der Täter den Eintritt des Taterfolgs nicht anstrebt und auch zum Zeitpunkt seines Handelns nicht sicher weiß, ob er eintreten wird, sondern ihn (nur) für möglich hält, aber billigend in Kauf nimmt. „Billigen im Rechtssinne“ ist dabei auch dann zu bejahen, wenn der Erfolgseintritt dem Täter unerwünscht ist, er sich aber mit ihm abgefunden hat. Schwierig ist häufig die Abgrenzung des Eventualvorsatzes von der bewussten Fahrlässigkeit, bei der der Täter ebenfalls den Erfolgseintritt für möglich hält, aber auf sein Ausbleiben vertraut. Diese Abgrenzung ist von erheblicher praktischer Bedeutung, weil viele Straftatbestände nur vorsätzlich, nicht auch fahrlässig begangen werden können, so auch Rechtsbeugung gem. § 339 StGB. Die nach Auffassung des Autors überzeugendste Abgrenzung von Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit arbeitet mit einer hypothetischen Frage: Wie hätte sich der Täter verhalten, wenn er im Moment seines Handelns (z. B. blindes Werfen eines Fernsehers aus dem dritten Stockwerk auf die Straße im Bewusstsein der Möglichkeit, einen Fußgänger zu treffen) gewusst hätte, dass der tatbestandliche Erfolg (= Fußgänger wird getroffen) eintreten wird? Hätte er dennoch gehandelt, liegt Eventualvorsatz vor, hätte er von dem Wurf Abstand genommen, Fahrlässigkeit. - 22
Exakt diese Formulierung wird auf S. 83 des Urteils noch einmal wiederholt, sie kann also kein Versehen sein. - 23
Der Vertreter der Staatsanwaltschaft hat in seinem Schlussplädoyer wiederholt erklärt, dass er diese oder jene Behauptung der Angeklagten „nicht glaube“ bzw. er „einfach nicht glaube“, dass es sich so oder so zugetragen haben soll. Der fehlende Glaube an die Wahrheit der Einlassung der Angeklagten reichte ihm offensichtlich, um Verurteilung zu beantragen. - 24
Man muss dazu sagen: Auch im Rahmen von §§ 42 ff. ZPO sind die Schlüsse der Angeklagten nicht richtig gewesen. Wenn es § 41 ZPO nicht geben würde, hätte die Angeklagte zumindest eine Selbstanzeige nach § 48 ZPO anbringen, da das Eltern-Kind-Verhältnis ohne Zweifel eine Ablehnung rechtfertigen könnte. Auf die Frage, ob sie sich selbst befangen, d. h. in ihrer Neutralität beeinträchtigt fühlte, kommt es insoweit nicht an. - 25
Auch wenn es darauf nicht ankommt, will der Autor keinen Hehl daraus machen, dass er die Einlassung, ihr sei der gesetzliche Ausschluss nicht bewusst gewesen, nicht nur für nicht widerlegbar hält, sondern – auch aufgrund des persönlichen Eindrucks von der Angeklagten (den im Übrigen auch das Gericht gemäß § 261 StPO bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen hat!) – davon überzeugt ist, dass sie der Wahrheit entspricht. - 26
Wie es um die Lebenserfahrung der entscheidenden Richter, die in Urteilen häufig bemüht wird (und auch bemüht werden muss), tatsächlich bestellt ist, ist eine Frage, der nach Auffassung des Autors zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. - 27
Ganz sicher wollte die Angeklagte mit dem Beschluss kein politisches Fanal setzen (dies zieht auch die Kammer nicht in Erwägung), schon allein deshalb, weil Anna K. sich selbst nicht der Coronamaßnahmenkritikerszene zurechnet. - 28
Ausführlich zu diesem Tatbestandsmerkmal des § 339 StGB: Die Anklage der Staatsanwaltschaft Erfurt gegen den Weimarer Familienrichter Christian Dettmar. Eine kritische Analyse – KRiStA – Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte n.e.V. (netzwerkkrista.de), Abschnitt 1. - 29
Ausführlich zum Taterfolg bei § 339: Nur ein Schwächeanfall der Justiz? Noch einmal: Das Urteil des Landgerichts Erfurt gegen Christian Dettmar – KRiStA – Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte n.e.V. (netzwerkkrista.de), Abschnitt 4. - 30
BGHSt 42, 343, juris Rn. 24., BGH NStZ 2013, 648. – Kritisch zu dieser ständigen Rechtsprechung des BGH und mit dem Vorschlag einer Neujustierung Rostalski, Grenzen des Straftatbestands der Rechtsbeugung bei Verstößen gegen Verfahrensregeln, JuristenZeitung 79 (2024), 139-147. - 31
Der Taterfolg ist zwar dogmatisch Teil des objektiven Tatbestandes, der grundsätzlich unabhängig vom subjektiven Tatbestand (Vorsatz und ggf. Absichten) zu prüfen ist, der BGH hat aber mit seiner Rechtsprechung den objektiven Tatbestand des § 339 StGB so subjektiviert, dass er nicht mehr unabhängig von subjektiven Elementen geprüft werden kann. Nicht nur die Motivation ist ein subjektives Element, auch der Begriff der Zuständigkeitsanmaßung setzt bereits Vorsatz hinsichtlich des Verstoßes gegen die Zuständigkeitsvorschriften voraus. Die Frage, ob im vorliegenden Fall eine konkrete Gefahr einer falschen Entscheidung bestand, kann also nur dann sinnvoll gestellt werden, wenn bereits entschieden ist, dass die Angeklagte hinsichtlich des gesetzlichen Ausschlusses vorsätzlich gehandelt hat. - 32
S. bereits oben unter „Unklare Feststellungen im Urteil“. - 33
In die Fußnote verbannt ein Beispiel für den Irrgarten: „Für das Vorliegen der benannten sachfremden Motivation spricht zudem die Einseitigkeit mit der die Angeklagte das Verfahren geleitet und entschieden hat. Dies ergibt sich aus der Gesamtschau der durch die Angeklagte getroffenen Entscheidungen, die gleichwohl jede für sich genommen als (noch) vertretbar einzuschätzen sind.“ (Urteil, S. 87) – Das muss man nachbuchstabieren: Die Angeklagte hat bei Erlass des Beschlusses verschiedene Teilentscheidungen getroffen, die für sich genommen jede rechtlich vertretbar war. Aber in der Gesamtschau ergibt sich aus den vertretbaren Teilentscheidungen ein Vorwurf, nämlich der der Einseitigkeit und diese Einseitigkeit spricht für eine sachfremde Motivation. – Mit dieser Logik kann die Kammer aus jedem Unschuldigen einen Schuldigen machen: Eigentlich hat die Angeklagte alles richtig gemacht, aber „in der Gesamtschau“ war es dann eben doch falsch! - 34
Auch im Rechtsbeugungsverfahren gegen den Weimarer Familienrichter Christian Dettmar ging es bekanntermaßen für die Staatsanwaltschaft nie um Corona, die Maßnahmen oder die betroffenen Schulkinder, sondern allein um Fragen der Zuständigkeit und der Befangenheit. - 35
Sehr deutlich die Leipziger Volkszeitung: Rosenkranz, Verfahren gegen Altenburger Juristin hat nichts mit Menschlichkeit und Fairness zu tun, LVZ vom 11.06.2024 und Bayer: Ein Urteil, das nur Verlierer hinterlässt, LVZ vom 21.06.2024. Nicht nur der Verteidiger, auch die Medien – gemeint war vor allem die Leipziger Volkszeitung – wurden von der Vorsitzenden in der mündlichen Urteilsbegründung scharf kritisiert. Kritische Prozessberichterstattung ist offenbar ein Problem.
Quelle: Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte (KRiStA)