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Göttinger Literaturwissenschaftler Prof. Gerhard Lauer: "Lesen wird noch wichtiger werden"

Archivmeldung vom 24.12.2014

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 24.12.2014 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Bild: Stephanie Hofschaeger / pixelio.de
Bild: Stephanie Hofschaeger / pixelio.de

Die spezifisch menschliche Kulturtechnik des Lesens ist im Umbruch. Bildschirme treten neben das bedruckte Papier. Software kann erkennen, bei welchem Wort wir stockten - und mit Informationen aushelfen. Der Göttinger Literaturwissenschaftler Prof. Gerhard Lauer ist sicher: "Die Warnungen vor dem Ende der Lesekultur sind so alt wie diese Kulturtechnik. Sie ist aber nicht am Ende. Allerdings wächst die digitale Kluft in der Bevölkerung."

Bild: Julien Christ / pixelio.de
Bild: Julien Christ / pixelio.de

Argentinier sollen seit Kurzem zum Lesen animiert werden, indem ihnen beim Friseur zum neuen Haarschnitt ein neues Buch gereicht wird. Ist das nur ein Rückzugsgefecht des Buches oder eines des Lesens?

Professor Gerhard Lauer: Weder noch, es ist gar kein Rückzugsgefecht, sondern ein typisch modernes Phänomen. Bücher wurden und werden in Gemeinschaft mit allen möglichen Dingen verkauft. So im Deutschland des 19. Jahrhunderts etwa mit Milch - wobei es hier nicht die Klassiker waren, sondern sogenannte Schundliteratur oder manchmal auch die Bückware. Die nun in Argentinien gewählte Verbindung ist also eine alte Verkaufstechnik, die Bücher unters Volk bringt.

Buschleute lauschen am Feuer alten Mythen, Nerds spielen sich durch alle Level erfundener Welten. Ist das Bedürfnis, sich in Geschichten zu verlieren, eine anthropologische Konstante?

Prof. Lauer: Mit ziemlicher Sicherheit. Dass dies eine anthropologische Konstante sein dürfte, erkennt man daran, dass bereits Kleinkinder Geschichten mit anderen teilen - sofern man sie nicht davon abhält. Das müssen nicht zwingend wortreiche Geschichten sein, auch die Augen-Dialoge mit der Mama gehören schon dazu. Später beginnen Kinder, Geschichten selbst zu spinnen. Sie setzen dazu ein eigenes Gesicht auf, das die Psychologie "das Spielgesicht" nennt. Mit diesem "Spielgesicht" bin ich eine andere Person. Egal, ob Kaufmann oder Prinzessin - Kinder agieren gerne in Rollen. Und das machen sie mit einer bemerkenswerten Sicherheit und Souveränität von alleine. Nur, wenn man sie schlecht erzieht, kann man sie davon abbringen, aber ansonsten diktiert hier die Natur der Kultur.

In der Antike galt sogar die Kulturtechnik des Lesens als verwerflich, weil sie angeblich das Gedächtnis schwäche. Würde Plato die heutige Kritik an Suchmaschinen bekannt vorkommen?

Prof. Lauer: Unbedingt, und er würde wahrscheinlich in dieselbe Kerbe hauen, dass Google und Computer Zeichen des Niedergangs seien. Und das stimmt ja, gemessen man an die Gedächtnisleistungen, die in vorskriptualen Kulturen nötig waren. Aber die Vorteile der Schrift waren dann doch so evident, dass keine Hochkultur auf sie verzichtet hat. In der Morgenröte der Schrift ging es zunächst allerdings nicht um das Niederlegen von Geschichten, sondern um Vorratshaltung, Verwaltung und Handel. Geschichten schriftlich zu erzählen, hat lange gedauert und dann die Welt erobert.

Seit der Zeit nur mündlicher Überlieferung wächst die Zahl der Medien stetig - immer begleitet von Warnungen vor vermeintlichen Gefahren. Kann man die Warnungen vor dem Internet also einfach ignorieren, auch wenn es als erstes Mediums alle vorhergehenden in sich vereinigen kann?

Prof. Lauer: Die Warnungen sind nicht das Interessante, sondern der Medienwechsel. Er zeigt, dass Medien zunächst mal nebeneinander bestehen. So hat der Kodex nicht den Papyrus ganz verdrängt und der Buchdruck nicht die Handschrift. Aber es setzen sich diejenigen neuen Medien längerfristig durch, die andere Medien so stark integrieren können, dass sie diese überbieten und andere Medien nur in einer Nische überleben lassen. In der Integrationsfähigkeit liegt dann auch die Macht der digitalen Welt. Das Internet verfügt tatsächlich über eine beeindruckende integrative Kraft, und die muss es auch haben, sonst hätte es sich nicht in so kurzer Zeit in unserer ausgeprägten Buchkultur durchgesetzt.

Kann man die Warnungen vor der Verdrängungsmaschine Internet ignorieren?

Prof. Lauer: Ja, so ziemlich, denn diese Warnungen kehren in der Geschichte der Medien mit schöner Regelmäßigkeit wieder. So wurde im 16. Jahrhundert davor gewarnt, Erasmus von Rotterdam zu lesen, der in seiner "Adagia" Weisheiten antiker Autoren zusammengestellt hatte, weil man die Klassiker dann nicht mehr in Gänze lesen würde. Das sind Gemeinplätze, die neu aufkommende Medien schon immer begleitet haben, und meist besagen, wir würden immer dümmer. Das ist aber nicht der Fall, wie etwa Untersuchungen zur Entwicklung des IQs in modernen Industrienationen zeigen.

Führen starke visuelle Reize nicht zwangsläufig zu einer Abwendung von den Buchstaben, die erst im Kopf Bilder entstehen lassen?

Prof. Lauer: Das Lesen braucht tatsächlich ein bisschen mehr und vor allem anderen Aufwand als das Sehen eines Films und hat den Vorteil, nicht die Bilder im Kopf so genau wie ein Film vorzugeben. Das schätzen viele, auch ich. Es gibt ein großes Bedürfnis, aus wenigen schriftlichen Informationen eigene Bilder im Kopftheater zu entwerfen, die dann einen sehr hohen persönlichen Wert haben, weil sie von unserer eigenen Lebenserfahrung gespeist werden. Wer den "Herrn der Ringe" liest, besitzt eigene Bilder, wer nur ins Kino geht, sieht Peter Jacksons Bilder.

Die Fähigkeit, funktionelle Texte wie Fernsehprogramme oder Spieleanleitungen zu verstehen, mag wachsen. Wie sieht es mit vertieftem Lesen hochkomplexer Texte aus?

Prof. Lauer: Die gängige These ist ja die, dass die Fähigkeit des vertieften Lesens verlorengehe. Das setzt voraus, dass wir im digitalen Zeitalter nur noch Textschnipsel abschöpfen würden. Das ist aber insofern nicht wahr, weil schon unsere Berufswelt nicht einfacher wird, sondern komplexer. Es sterben die Berufe aus, die wenig komplexe Tätigkeiten abfordern. Wer aber in einer komplexen Berufswelt bestehen will, muss hierarchisch strukturiertes Wissen abrufen können, das in langen Ketten von Argumenten organisiert ist und zumeist über Jahre erworben wird. Die Fähigkeit zum vertieften Lesen ist daher wichtiger denn je und nicht immer passen unsere Ausbildungswege schon dazu, etwa die verkürzten Bachelorstudiengänge. Dass es neben diesem fokussierten Lesen auch immer ein flanierendes Freizeitlesen gab, ist klar. Beides hat sein Recht. Dass es heute nur noch das oberflächliche Lesen gäbe, lässt sich nicht belegen.

Sie sprachen an, dass in vergangenen Jahrhunderten der Zugang zu Medien limitiert war. Spiegelt das Unbehagen an neuen Medien eigentlich nur das Unbehagen an einer Mediendemokratisierung wider, an einer verloren gegangenen obrigkeitlichen Kontrolle der Mediennutzung?

Prof. Lauer: Ja, Medienkritik ist immer auch die Kritik derjenigen, die über Medien und Wissen verfügen, wenn andere in die Medienwelt eintreten. Das Unbehagen hat damit zu tun, dass man nicht genau weiß, was die Nutzer da eigentlich herunterladen und was das dann für die Gesellschaft bedeutet. So hat man mit solchen Argumenten einst etwa gegen Heftromane gewettert und sie noch im 20. Jahrhundert auf Schulhöfen verbrannt. Heute sind ganze Staaten damit beschäftigt, den freien Zugang zum Netz zu unterbinden. Und immer tauchen dann die alten Argumente auf, der große Lümmel Volk bedürfe solcher Anleitung von oben.

Erst ab dem 18. Jahrhundert diente das Buch der Masse als Mittel zur Selbstidentifikation. Wird sich dieser Trend in der digitalen Welt noch verstärken, weil das Medium auf das Nutzerverhalten reagiert und es so verstärkt?

Prof. Lauer: Damit sprechen Sie eine der interessantesten Entwicklungen an, die wir alle noch erleben werden. Grundsätzlich bieten Geschichten die Möglichkeit, uns selbst in unseren eigenen Wahrheiten zu verstärken und Persönlichkeitsmerkmal zu beeinflussen. Im Buchzeitalter war das schon möglich. Goethe spricht in seinem "Werther"-Roman vom Buch als Freund. Das Schreiben eines Tagebuchs ist ein solcher Freund. Heute ist dieses medienverstärkte Ich in einem Ausmaß möglich, dass wir überhaupt keine Vorstellungen davon haben, wie sich unsere Identitäten verändern werden, wenn sie diese Dauerverstärkung haben. Das kann die negative Verstärkung für denjenigen sein, der sich nur mit Sex- und Gewaltfantasien beschäftigt. Oder auch positiv, denkt man an den Youtube-Star Melanie, die ihr Leben in zig Geschichtchen mitteilt - und massenhaftes Feedback erhält. Denken sie an die zehntausenden von Autoren die Fan-Fiction schreiben, also bekannte Buch- oder Filmstorys weiter spinnen, sich dabei gegenseitig kritisieren oder auch gemeinsam Welten entwickeln.

Wie groß ist die Gefahr angesichts unzähliger maßgeschneiderter Interesse-Nischen, dass die Allgemeinbildung sinkt, weil immer weniger Menschen Informationen eher zufällig am Rande aufnehmen, etwa beim Zeitunglesen?

Prof. Lauer: Zufälliger sind die Informationen, die wir aufnehmen, nicht geworden, nur die Wege der Informationsaufnahme sind vielfältiger geworden. Noch gelten zwar Zeitungen als verlässlichere Medien. Und der 'Tatort' ist immer noch ein Gesprächsthema in Deutschland. Aber man sieht, dass andere mediale Hotspots immer wichtiger werden, über die Namen und Themen aus einer Nische in die Mitte der Gesellschaft katapultiert werden. Zu vermuten ist, dass diese Themensetzungen volatiler werden, das heißt, die Trends werden in einem schnelleren Tempo gewechselt. Auch darüber wurde auch schon vor hundert Jahren geklagt.

Schon bei Jules Verne versanken Leser in fiktiven Welten. Dass seine Leser diese mit der realen Welt verwechselten, wie etwa TV-Serienjunkies, dürfte selten vorgekommen sein. Neigen visuelle Medien dazu, die Hirne ihrer Nutzer zu erobern?

Prof. Lauer: Das ist kein neues Phänomen, das ist schon Rousseau im 18. Jahrhundert passiert. Er bekam körbeweise Post von seinen Lesern, die seine erfundenen Figuren aus dem Roman "Julie oder Die neue Heloise" kennenlernen wollten. Das ist, was Fans ausmacht: Sie wissen, dass die Figuren nicht real sind, möchten sich aber vorstellen, dass sie es wären. Wir wollen in Geschichten verstrickt sein, gerade erfundenen. Aber wir wissen zugleich, dass sie erfunden sind.

Vergrößern digitale Medien die soziale Kluft zwischen denen, die einen ipad und ein Lexikon bedienen können, und denen, die nur gelernt haben, Medien zur betäubenden Reizüberflutung zu nutzen?

Prof. Lauer: Das ist leider der Fall. Zwar sind Zahlen nur mit großer Vorsicht zu bewerten, aber man kann davon ausgehen, dass rund 15 Prozent der Bevölkerung große Schwierigkeiten haben, mit den neuen Medien so umzugehen, dass sie nicht nur negative Effekte auf ihr Leben haben. Es gibt außerdem ca. 7 Millionen Menschen in Deutschland, die verdeckte oder funktionale Analphabeten sind und einen Computer nur eingeschränkt nutzen können. Es muss uns also viel daran liegen, den digitalen Graben schmaler zu machen, gerade weil moderne Gesellschaften dahin tendieren, dass die Starken noch stärker werden und dass die Schwachen, etwa die, die mit nichts hierher einwandern, große Probleme haben, auf ein vergleichbares Niveau zu kommen, um Computer und Internet so gescheit zu nutzen, dass es auch ihnen nützt.

Wächst also die Verantwortung der Eltern, dem Nachwuchs mittels Vorlesen die Kulturtechnik des Lesens beizubringen, um nicht digitale Analphabeten heranzuzüchten?

Prof. Lauer: Ja, ohne entsprechend sensibilisierte Eltern, Lehrer und Freunde wird es nicht zu machen sein. Wie alle Kultur muss das Lesen eingeübt werden und das fängt mit dem abendlichen Vorlesen an, geht weiter über die Präsenz von Büchern und anderen Medien im Umfeld der Kinder und endet bei der Vermittlung des verantwortlichen Umgangs mit Medien. Ob auf dem Kindle oder mit dem Buch vorgelesen wird, ist nebensächlich. Lesen ist vor allem und zuerst ein sozialer Akt. Dasselbe gilt für das Fernsehen oder die Computernutzung. Wenn der nicht gemeinsam eingeübt wird, bekommen Gesellschaften Probleme.

Ist die Zeit großer Buch- und Zeitungsverlage vorbei, weil die Leserschaft sich ausdifferenziert und somit die Märkte immer kleinteiliger werden?

Prof. Lauer: Aktuell sehen wir eher zwei gegenläufige Entwicklungen als eine eindeutige Tendenz. Es gibt eine Oligopolisierung sowohl in der Buch- als auch in der Zeitungsverlagsszene und in der Internetwelt erst recht. Auf der anderen Seite entstehen ganz neue Wege, sich zu Wort zu melden und seine Geschichten an die Leser zu bringen, wie etwa die wilde Szene des Selfpublishings. Und beide treffen auf stetig wachsende Märkte, die ihrerseits kleinteilige Spezialpublika zulassen. Das ist ein ziemlich verwirrender Zustand, von dem keiner weiß, wohin die Reise geht.

Aber zumindest wissen wir, dass die Kulturtechnik des Lesens bestand hat...

Prof. Lauer: ...die wird noch wichtiger werden.

Das Interview führte Joachim Zießler

Quelle: Landeszeitung Lüneburg (ots)

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