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77 Jahre Fall Barbarossa: Russland veröffentlicht erstmals erbeuteten Angriffsplan

Archivmeldung vom 23.06.2018

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 23.06.2018 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Unternehmen Barbarossa (ursprünglich Fall Barbarossa)
Unternehmen Barbarossa (ursprünglich Fall Barbarossa)

By User:KevinNinja - Transferred from en.wikipedia to Commons., CC BY-SA 3.0, Link

Genau 77 Jahre nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion hat das russische Verteidigungsministerium weitere Geheimarchive offengelegt. Am Freitag wurden unter anderem erste Kriegsbefehle der Roten Armee und ein erbeuteter Angriffsplan der Wehrmacht erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Dies berichtet das russische online Magazin "Sputnik".

Unter den Unterlagen ist ein Befehl des damaligen Generalstabschefs Georgi Schukow, der am 22. Juni um 07:15 Uhr, also drei Stunden nach den ersten Angriffen der Wehrmacht auf die Sowjetunion erlassen worden war.

Darin befiehlt der spätere Marschall der Sowjetunion der Roten Armee, die deutschen Truppen dort zu vernichten, wo sie die Grenze verletzt haben. Die Luftwaffe soll 100 bis 150 Kilometer tief in deutsches Gebiet fliegen und Flughäfen und Truppen angreifen.

Darüber hinaus machte das Verteidigungsministerium einen deutschen Angriffsplan unter dem Titel „Unternehmen Barbarossa“ publik.

„Die veröffentlichten Unterlagen sind einzigartig und den ersten Tagen des blutigsten Krieges des 20. Jahrhunderts gewidmet“, kommentierte das Ministerium.

Weiter berichtet die deutsche Ausgabe des Magazins: "Den freigegebenen und auf der Webseite des russischen Verteidigungsministeriums veröffentlichten Brief hatte der ehemalige stellvertretende Leiter der Aufklärungsabteilung des Stabes der Nord-West-Front, Generalleutnant Kusma Derewjanko, geschrieben. Der Baltische Sondermilitärbezirk hieß so bis 1941, und mit dem Beginn des Großen Vaterländischen Krieges wurde er in Nord-West-Front umbenannt.

„Das Kommando und der Stab des Militärbezirks verfügten zwei bis drei Monate vor dem Beginn der Kriegshandlungen über glaubwürdige Angaben bezüglich der zunehmenden und konkreten Vorbereitung des faschistischen Deutschlands auf den Krieg gegen die Sowjetunion“, folgt aus Derewjankos Antwort auf Fragen des Generalobersts der Militär-historischen Verwaltung des Generalstabs der Sowjetarmee Alexander Pokrowski.

Wie aus dem freigegebenen Dokument von Pokrowski hervorgeht, sind 1952 fünf ungeklärte Fragen an die Führung des Baltischen, des Kiewer und des Belorussischen Sondermilitärbezirks entstanden, die sich auf die Zeitspanne der Truppenentfaltung des Westlichen Sondermilitärbezirks nach dem „Plan der Verteidigung der Staatsgrenze 1941“ bezogen haben sollen.

Pokrowski hat sich die Fragen gestellt, ob der Verteidigungsplan der Staatsgrenze an die Truppen weitergeleitet worden sei. Wenn ja – was und wann sei dann von der Armeeführung und den Truppen für seine Realisierung getan worden. Zudem interessierte er sich dafür, von welcher Zeit an und aufgrund welcher Anordnung die Verlegung der Deckungstruppen in Richtung Staatsgrenze begann und wie viele von ihnen für ihre Defensive entfaltet worden seien. Pokrowski versuchte zu klären, wann im Armeestab die Anordnung des Bezirksstabes über die Truppenbereitstellung im Zusammenhang mit dem Angriff des faschistischen Deutschlands am frühen Morgen des 22. Juni erhalten worden sei, warum sich der überwiegende Teil der Artillerie und der Divisionen in den Militärlagern befand und inwieweit der Stab der Armee auf die Führung der Truppen vorbereitet war.

Derewjanko hat in seiner Antwort auf die aufgeworfenen Fragen zudem darauf verwiesen, dass die Gruppierung der faschistischen Truppen im Vorfeld des Krieges im Memel-Gebiet (ehemaliges Territorium Ostpreußens, heute Litauen – Anm. d. Red.), in Ostpreußen und im Gouvernement Suwalska (heute litauisches, polnisches und weißrussisches Territorium) in den letzten Tagen vor dem Krieg dem Stab ziemlich vollständig und detailliert bekannt gewesen war.

„Die aufgedeckte Gruppierung der faschistischen Truppen wurde am Vorabend der Kriegshandlungen von der Aufklärungsabteilung als eine Offensiveinheit mit bedeutender Ausrüstung von Panzern und Motoreinheiten bewertet“, schrieb er.

Derewjanko zufolge wurde ab der zweiten Kriegswoche viel Aufmerksamkeit der Organisation der Einheiten gewidmet, die in das Hinterland des Gegners zum Zweck der Aufklärung und der Diversion geschickt wurden, sowie der Schaffung von Funkaufklärungsgruppen im Hinterland des Gegners und von Funknestern auf dem von unseren Truppen besetzten Territorium im Fall ihres erzwungenen Abzuges.

„In den nächsten Monaten hatten sich die von unseren im Hinterland des Gegners wirkenden Gruppen und Abteilungen erhaltene Informationen stets verbessert und stellten einen großen Wert dar. Es wurde von der (…) beobachteten Truppenkonzentration in den Grenzgebieten ab Ende Februar (1941 – Anm. d. Red.), von den von den deutschen Offizieren entlang der Grenze durchgeführten Erkundungen, von der ansteigenden Errichtung langfristiger Verteidigungseinrichtungen im Grenzgebiet sowie von Gas- und Bombenkellern in den Städten von Ostpreußen berichtet“, verlautet aus dem Brief des stellvertretenden Leiters der Aufklärungsabteilung des Stabes der Nord-West-Front.

1941: „Überfall war keine Überraschung“

Am 22. Juni 1941 überfiel Nazi-Deutschland die Sowjetunion. „Das war ein Einschnitt für das Land, von dem es sich – trotz des Sieges – nur schwer erholte“, sagt Historiker Jörg Morré im Sputnik-Interview. Der Direktor des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst macht darauf aufmerksam, dass in Russland noch „unausgeforschte Akten“ ruhen.

Herr Dr. Morré, am 22. Juni 1941 begann mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion auch der Zweite Weltkrieg auf russischem Boden. Wie schätzen Sie das als Historiker militärpolitisch ein?

Das ist auf jeden Fall eine große Zäsur im Verlauf des gesamten Zweiten Weltkrieges. Bisher streiten sich die Gelehrten: War die Sowjetunion nicht auch schon vorher mit involviert? Sie war letztendlich bei der militärischen Besetzung, bei der Einnahme Polens im September 1939 schon mit dabei. Und beide Seiten – Sowjetunion wie Deutsches Reich – wussten, dass sie früher oder später in einem militärischen Konflikt stehen werden.

Auch für Stalin war das letztendlich keine Überraschung am 22. Juni 1941, obwohl er persönlich, das sagen alle übereinstimmend, wirklich überrascht war. Seine Geheimdienste hatten ihn bestens informiert. Die sowjetische Militäraufklärung wusste das alles. Und trotzdem hat Stalin das nicht glauben wollen. Er war von der Bildfläche verschwunden. Es ist am Ende der Außenminister Molotow, der der Bevölkerung sagt: Es ist Krieg. Und der große Umschwung ist natürlich die Verlagerung vom westlichen Kriegsschauplatz auf den östlichen.

Sie sind auch Direktor des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst. Werden Sie dazu Veranstaltungen durchführen, Ausstellungen präsentieren? Was haben Sie dazu in der Vergangenheit gemacht und was heute?

Konkret am 22. Juni werden wir nichts gesondert machen. In der Vergangenheit haben wir dieses Datum bemerkt, wenn ich ehrlich bin, schon immer orientiert an den großen Zäsuren. Das war vor allem 2016 mit einem großen Erinnerungs- und Gedenkakt im Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums mit vielen Kooperationspartnern. Das war der 75. Jahrestag des Überfalls. Und es war da leider auch schon zu spüren, dass das in der deutschen Öffentlichkeit ein recht nachrangig behandeltes Thema ist.

Im letzten Jahr war das dann der gleiche Eindruck, so dass wir es in diesem Jahr nicht extra aufgreifen werden. Wenn ich ehrlich bin, auch angesichts der WM. Aber: Wir werden am 12. Juli hier im Hause eine Veranstaltung durchführen zum 75. Jahrestag der Gründung des Nationalkomitees „Freies Deutschland“. Ein ganz anderes Thema – es hat aber mittelbar auch mit dem deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion zu tun und wird uns dann die Möglichkeit geben, diesen Kontext herzuleiten und zu sagen: Das ist im Grunde auch vor ziemlich genau 77 Jahren passiert.

Welche Bedeutung hat dieser Tag für Russland? Und wo sind die Unterschiede in der Wahrnehmung dieses Tages auf russischer und auf deutscher Seite?

Für Russland, für die Sowjetunion genauer gesagt, ist das natürlich eine große Zäsur, weil dieses Land unvorbereitet getroffen wurde. Der europäische Teil der Sowjetunion ist verwüstet worden, auch zum Teil entvölkert. Das ist bis in die 1970er Jahre hinein volkswirtschaftlich zu spüren gewesen. Wenn Sie so wollen, bevölkerungsmäßig bis heute: Es gibt heute statistisch einen enormen Frauenüberhang in der russischen Bevölkerung.

Zweitens handelte sich die Sowjetunion bis weit in die 1950er Jahre hinein einen mächtigen Nationalitätenkonflikt ein, auch gerade wieder aktuell durch die Ukraine-Krise noch mal präsent. Aber das gilt auch für das Baltikum und für Moldau, auch hinten für die Kaukasus-Republiken.

Und naja, drittens: Das Land stand am Abgrund und hat sich dann retten können. Nicht nur das, es hat am Ende sogar den Sieg davontragen können. Das ist natürlich ein prägendes Ereignis bis heute und wird zu Recht, wie ich finde, stark betont, auch wenn es natürlich zusätzlich noch politisch instrumentalisiert wird.

Auf deutscher Seite haben wir uns lange Zeit ein bisschen schwer getan, das angemessen zu würdigen als eine wirkliche, qualitative Änderung dieses Zweiten Weltkrieges. Diese Diskussion ist richtig massiv dann erst in den 1990er Jahren geführt worden. Das fällt stark zusammen mit der deutschen Wiedervereinigung, wo dann auch viele Ansätze, die in der DDR-Geschichtsschreibung durchaus Erwähnung gefunden hatten, dann auch richtig wieder auflebten. Das ist aber mittlerweile auch schon wieder 25 Jahre her, so dass aktuell dieser 22. Juni hier in der deutschen Gesellschaft keinem so richtig vor Augen steht.

Das ist so ein bisschen Ja und Nein. Einerseits ist es einfach der Gang der Geschichte, dass auch große, wichtige, einschneidende Ereignisse mit zunehmendem Abstand historisiert werden und, ich sage mal, im Nebel der Geschichte versinken. Nehmen Sie die Französische Revolution – natürlich ist die enorm wichtig, aber es ist eben auch sehr lange her. So gesehen widerfährt das jetzt auch einigen Ereignissen im Zweiten Weltkrieg. Unser Diskurs ist anders. Wir diskutieren immer noch stark über Verbrechen, die auf die NS-Diktatur zurückgehen, im Inland. Gut, die Zwangsarbeiter-Diskussion ist auch schon lang wieder durch. Im Augenblick sind wir stärker wieder mit Opfergruppen im eigenen Land, mit Psychiatriekranken oder Homosexuellen, mit Sinti und Roma, beschäftigt. Oder eben auch vielleicht – es rückt so ein bisschen in die Entnazifizierung, was aber auch immer voraussetzt, wie deutsche gesellschaftliche Organisationen, Behörden, Ämter, Ministerien eben vom Nationalsozialismus durchdrungen waren und wie man sich hat davon freimachen können. Das ist der Diskurs.

Der Zweite Weltkrieg militärhistorisch ist von deutscher Seite ausgeforscht. Der Vernichtungskrieg und das ganze Verbrecherische, was damit einhergeht, vor allen Dingen der Holocaust und die Zwangsarbeit, ist sehr gut bearbeitet. Ausgeforscht ist da vielleicht noch ein bisschen übertrieben. Da wartet man eigentlich auf einen substantiellen Beitrag von russischer Seite. Die russischen Archive sind in diesen Fragen leider nach wie vor nicht zugänglich. Was dort liegt und was sicherlich noch ein Beitrag wäre, kann nicht in den wissenschaftlichen Diskurs einfließen.

Was schlummert da noch an russischen Akten? Ich weiß, dass es auch Historiker gibt, die sagen, Stalin habe davon gewusst, dass es einen baldigen deutschen Angriff durch die Truppen Hitlers geben wird und habe sich dementsprechend darauf vorbereitet. Ich hatte mal mit Professor Richard Saage, Politologe und emeritierter Professor für Ideengeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg gesprochen, der meinte: Das sei ausgeschlossen. Aber es gibt eben auf der anderen Seite Historiker, die schreiben, Stalin habe von dem Angriff gewusst. Wie ist da Ihr Erkenntnisstand?

Ich glaube, Sie spielen auf die sogenannte „Präventivkriegsthese“ an, das Deutsche Reich habe eben diesen sowjetischen Vorbereitungen zuvorkommen müssen. Das ist widerlegt. Das ist als These fachwissenschaftlich tot. Selbstverständlich waren da Truppen stationiert. Sie müssen sich vorstellen, die Außengrenze der Sowjetunion ist durch den Hitler-Stalin-Pakt, den Molotow-Ribbentrop-Pakt knapp zwei Jahre zuvor um 300 Kilometer, grob gesagt, nach Westen verschoben worden. Die mussten einfach eine neue Grenzsicherung aufbauen. Das taten die auch. Aber das war eben noch nicht abgeschlossen im Sommer 1941. Das ist mit ein Grund, warum da Bauaktivitäten waren, warum da auch eine gewisse größere militärische Präsenz war, warum auch in diesen Grenzmilitärbezirken eine, nennen wir es mal, erhöhte Wachsamkeit war. Das darf man aber nicht verwechseln mit einem bevorstehenden Angriff der Sowjetunion auf das Deutsche Reich.

Spuren und Fragen bis heute

Vor 77 Jahren hat das faschistische „Großdeutsche Reich“ die Sowjetunion überfallen, vertragsbrüchig, dennoch angekündigt. Trotzdem hat der Überfall selbst die Deutschen überrascht, wie Historiker zeigen. Der Literaturhistoriker Carsten Gansel hat erlebt, dass trotz des Leides durch den Krieg die Russen den Deutschen verziehen haben.

Mit insgesamt 3,6 Millionen Soldaten, 3500 Panzern und 2700 Flugzeugen überfiel die faschistische deutsche Wehrmacht gemeinsam mit verbündeten Truppen aus Rumänien, Finnland, Ungarn und der Slowakei am 22. Juni 1941 die Sowjetunion. Der vor 77 Jahren begonnene Vernichtungskrieg forderte bis zu seinem Ende am 8. Mai 1945 allein auf sowjetischer Seite etwa 27 Millionen Tote.

„Der deutsche Angriff erfolgt, ohne dass zuvor politische und/oder ökonomische Forderungen an die Sowjetunion gestellt worden wären“, schrieb der Historiker Erich Später 2015 in seinem Buch „Der dritte Weltkrieg – Die Ostfront 1941 – 1945“. „Es gab weder ein Ultimatum noch eine Kriegserklärung“, erinnerte er. „Der Überfall wird von der deutschen Propaganda als europäischer Kreuzzug zur Verteidigung der Kultur gegen den jüdischen Bolschewismus gefeiert.“

Später wies darauf hin, dass die faschistischen Pläne, die Sowjetunion zu unterwerfen und zu zerschlagen, „auf einem breiten Konsens innerhalb der herrschenden deutschen Eliten“ beruhten. Die deutschen Machteliten in Wirtschaft, Verwaltung und Militär hätten nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik nicht aufgehört, „über eine erneute Offensive nachzudenken“. Vor allem ökonomische und geostrategische Interessen hätten dahinter gestanden, so Später in seinem hochinteressanten Buch. Das Gebiet der Sowjetunion sei wegen seiner Rohstoffe und Absatzmärkte sowie billigen Arbeitskräfte zum Ziel der deutschen Expansion geworden, bei der es um eine „autarke Großraumwirtschaft“ statt einer stärkeren internationalen Verflechtung gegangen sei.

„Mit dem Vormarsch der Deutschen Wehrmacht und SS in der Sowjetunion realisiert sich im gesamten deutschen Machtbereich das radikalste Programm zur vollständigen Vernichtung eines Teils der Menschheit, das jemals erdacht und geplant wurde“, betonte Später. Der Historiker Sebastian Gerhardt hatte in einem Vortrag im Februar dieses Jahres festgestellt, die Sowjetunion habe für ihren Sieg über den deutschen Faschismus im Zweiten Weltkrieg einen unglaublich hohen Preis gezahlt. Davon habe sie sich bis zu ihrem Ende 1991 nicht wieder erholt.

Einige Historiker erinnern daran, dass der 2. Weltkrieg bereits am 1. September 1939 begann, als das Großdeutsche Reich und die Sowjetunion Polen aufteilten. Oft wird dabei die Vorgeschichte des deutsch-sowjetischen Nichtangriffs-Vertrages weggelassen. Zuvor hatte Moskau lange Zeit versucht, gemeinsam mit den westlichen Staaten eine kollektive Sicherheitspolitik gegenüber dem faschistischen Deutschland zu gestalten. Das sei spätestens mit dem Münchner Abkommen vom 29. September 1938 gescheitert, wie unter anderem Historikerin Bianka Pietrow-Ennker in dem 2000 veröffentlichten Sammelband „Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion“ feststellte.

Dass der Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen das Land im Osten von Beginn an zu den Plänen der deutschen Faschisten gehörte, war lange vorher bekannt. „In seinem Buch ‚Mein Kampf‘ (1. Band 1924) hatte Hitler, für jedermann zu lesen, die programmatische Erklärung abgegeben: ‚Der Kampf gegen die jüdische Weltbolschewisierung erfordert eine klare Einstellung zur Sowjetunion (…) Wir weisen den Blick nach dem Land im Osten (…) Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Russland denken‘.“ Das schrieb der Historiker Fritz Fischer 1992 in seinem Buch „Hitler war kein Betriebsunfall“.

Fischer erinnerte auch daran, dass der von Hitler benutzte Begriff vom „Lebensraum“ im Osten erstmals 1916 in einer Erklärung der Universität München auftauchte. Er wies ebenso darauf hin, dass Hitler lange Zeit, wenn auch erfolglos, versuchte, Polen als Bündnispartner gegen die Sowjetunion zu gewinnen.

Dennoch hat die Morgenmeldung des „Großdeutschen Rundfunks“ am 22. Juni vor 77 Jahren auch die Masse der Deutschen unvorbereitet getroffen. Das stellte der 2016 verstorbene Historiker Kurt Pätzold in seinem Buch „Der Überfall“ fest, der ebenfalls auf Hitlers frühe Ankündigung hinwies. Die Deutschen hätten damals eher mit einem Krieg gegen Großbritannien gerechnet, nicht mit einer neuen Ostfront nach dem Überfall auf Polen.

„Was ihnen nun für ein Krieg bevorstand, ahnten die ‚Volksgenossen‘ am wenigsten, die seit Jahren die faschistischen Propagandabilder vom ‚Bolschewismus‘ und ‚bolschewistischem Judentum‘ eingesogen hatten, die, im September 1939 verschwunden, nun aus den Archiven wieder hervorgeholt wurden. Sie gerieten in einen Krieg ohne geschichtliches Beispiel.“

Pätzold versuchte in seinem letzten Buch, kurz vor seinem Tod erschienen, zu zeigen, wie sich die Deutschen kurz vor und nach dem faschistischen Überfall auf die Sowjetunion verhielten, was sie dachten und wie sie reagierten. Sie hätten sich mehrheitlich in einen Krieg führen lassen, in dem sie nur verlieren konnten: „Das eigene Leben, Verwandte und Freunde, Hab und Gut und gemeinsam das Ansehen, das seine Vorfahren als Nation sich einst erwarb.“ Der Historiker verstand das als Warnung vor der „missbräuchlichen Mobilisierung von Völkern gegen ihre eigenen Interessen“. Das gehöre nicht der Vergangenheit an, nur die Instrumente dafür seien verändert und vermehrt worden.

„Die Russen haben den Deutschen verziehen“, stellte der Literaturhistoriker Carsten Gansel gegenüber Sputniknews fest. Das sei relativ schnell nach dem Ende des 2. Weltkrieges geschehen, „obwohl so viel Leid über die damalige Sowjetunion gekommen ist“. Der Wissenschaftler hielt sich mehrmals in Russland auf und berichtete, dass ihm immer mit großer Sympathie begegnet worden sei. Die Sicht der Russen auf Deutschland habe er als „erstaunlich, erstaunlich positiv erlebt“.

Gansel brachte 2016 die Urfassung des Romans „Durchbruch bei Stalingrad“ des einstigen Wehrmachtsoffiziers Heinrich Gerlach heraus. Er hatte das als verschollen gegoltene Manuskript im Archiv des sowjetischen Geheimdienstes in Moskau gefunden.

Der Literaturhistoriker war mit einem Team des ZDF im heutigen Wolgograd, dem früheren Stalingrad. Dort seien die Spuren des „barbarischen Krieges“ bis heute nicht zu übersehen. Sie seien „leibhaftig zu erfühlen, man sieht das auf Schritt und Tritt. Auch weil im kollektiven Gedächtnis Russlands die Erinnerung daran wach gehalten wird, was ich für vollkommen normal halte.“

Gansel war 2017 ein Semester lang Gastprofessor an der Staatlichen Landesuniversität Moskau. Gegenüber Sputnik berichtete er von einer Begegnung mit einem russischen Kollegen, der in der Schulzeit lange nach dem Krieg die deutsche Sprache nur heimlich gelernt habe. Der Grund: Seine Großmutter, die aus der Gegend von Stalingrad stammte, habe ihm verboten, Deutsch zu lernen. Sie habe das damit begründet, dass sie die Kriegsbilder nicht aus ihrem Kopf bekomme und nicht daran erinnert werden wollte.

Der Gießener Literaturhistoriker verwies auf die Spuren des Krieges in der Literatur von Überlebenden. Er erinnerte an die Unterschiede in Ost und West, wie der Krieg gegen die Sowjetunion dargestellt wurde. In der Bundesrepublik sei als eine „Bewältigungsstrategie“ das „soldatische Opfernarrativ“ entworfen worden, wonach der deutsche Soldat vor allem als Opfer der Umstände dargestellt wurde – nach dem Motto: „Vorn stand der Russe und hinten die Kettenhunde. Was sollten wir tun?“ Bücher wie der Stalingrad-Roman Gerlachs, der klar mit dem faschistischen Krieg abrechnet und in dem dessen Alter Ego Oberleutnant Breuer feststellt, „Um uns die Augen zu öffnen, musste erst Stalingrad kommen“, seien eher die Ausnahme gewesen. Solche Aussagen und Gedanken seien zwar auch in anderen Werken zu finden, so in denen von Heinrich Böll, aber insgesamt nur selten und „nicht systemprägend“.

„Auch in der DDR haben vor allem junge Autoren in den 1950er Jahren von den Schrecken des Krieges erzählt, so Egon Günther, Harry Thürk, Karl Mundstock oder Hans Pfeiffer“, berichtete Gansel. „Auch in diesen Texten wird in einer harten und an Ernest Hemingway orientierten Schreibweise von den Schrecken eines Vernichtungskrieges im Osten erzählt. Freilich werden die Figuren in diesen Texten nicht klüger, eine Bewertung und Abrechnung findet sich nur in Ansätzen.“

Erst ab den frühen 1960er Jahren sei in der DDR in den sogenannten Wandlungs-Romanen vom „Weg eines ursprünglich von der nazistischen Ideologie befallenen deutschen Soldaten erzählt worden, der dann sukzessive durch das, was er im Krieg erlebt, schließlich erkennt, wie schrecklich dieser ist und was er falsch gemacht hat und auf welche Weise er sich verführen lassen hat“. Dafür stehe besonders der Roman „Die Abenteuer des Werner Holt“ (1960) von Dieter Noll. Auch Max Walter Schulz  „Wir sind nicht Staub im Wind“ (1962) gehöre dazu.

Gansel erinnerte im Gespräch daran, dass vor 75 Jahren, am 12. und 13. Juli 1943 in Krasnogorsk bei Moskau, das Nationalkomitee Freies Deutschland“ (NKFD) gegründet wurde. In dem schlossen sich deutsche Exilkommunisten mit Soldaten und Offizieren der Wehrmacht gegen Hitler zusammen. Und zwei Monate später, am 11. und 12. September, sei in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft der „Bund Deutscher Offiziere“ (BDO) entstanden, aktiv gefördert von Moskau. Beide sollten helfen, den Krieg bald zu beenden – was nicht gelang, so dass bis zum 8. Mai 1945 noch Millionen Opfer zu beklagen waren. Noch bis über die 1990er Jahre hinaus sei im geeinten Deutschland darüber diskutiert worden, ob die daran beteiligten Offiziere und Soldaten „Patrioten oder Verräter“ waren.

„Das ist etwas, was Deutschland bis ins neue Jahrtausend begleitet, die Frage: War es legitim, die Seite zu wechseln und bei einem verbrecherischen Krieg, der ein Vernichtungskrieg gegen den Osten war, zu sagen: ‚Ich mach da nicht mehr mit und kapituliere schon vorher‘?“

Das komplette Interview mit Prof. Dr. Carsten Gansel zum Nachhören.

Quelle: Sputnik (Deutschland)

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