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Wie Kinder unter dem Lockdown leiden: „Mit Fast Food und Cola vor dem Fernseher verschimmeln“

Archivmeldung vom 11.01.2021

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 11.01.2021 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Anja Schmitt
Bild: Elke Handke / PIXELIO
Bild: Elke Handke / PIXELIO

Auch wenn die Regierung es nicht wahrhaben will, gehören Kinder und Jugendliche längst zu den am stärksten Betroffenen der Corona-Maßnahmen. Das weiß der Jugendforscher Michael Klundt. Im Interview mit SNA nennt er als einen Grund auch die neoliberale Politik der Gegenwart und Vergangenheit.

„SNA News“ fragt daraufhin nach: "Herr Professor Klundt, das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf hat für seine Studie „Corona und Psyche“ rund tausend Kinder und Jugendliche dazu befragt, wie sie die Corona-Krise bislang erlebt haben. 71 Prozent der Befragten antworteten, sie fühlten sich „psychisch belastet“. 66 Prozent sagten, sie litten unter „vermindertem Wohlbefinden“ und „verminderter Lebensqualität“. Fast ein Drittel berichtete von massiven familiären Spannungen und erheblichen Problemen bei der Alltagsbewältigung. Das war im Juli 2020, nun befinden wir uns mitten im zweiten Lockdown, wie geht es den jüngsten in der Gesellschaft aktuell?

Leider bestätigen auch die aktuellsten Studien zu den Folgen von Corona und den Maßnahmen dagegen die Hamburger Ergebnisse. Was ich in meiner eigenen Studie im Juni und in der Kinderkommission des Deutschen Bundestages im September vorgestellt habe, wurde von den verschiedenen empirischen Forschungen untermauert. Trotz aller gegenlautender Beteuerungen der Regierung sind Kinder und Jugendliche längst zu den am stärksten Betroffenen von Corona und den Maßnahmen dagegen bundesweit und weltweit geworden. Und das Besondere: Alle Entscheidungen seit Frühjahr 2020 fallen über die Köpfe der Kinder und Jugendlichen hinweg, fast nirgendwo werden sie einbezogen oder wenigstens konsultiert oder auch nur darüber informiert, was man mit ihnen zu tun gedenkt. Und die besonders vulnerablen Gruppen, wie Kinder in Armut, obdachlose Jugendliche, geflüchtete Heranwachsende und Minderjährige mit Behinderung sind davon am stärksten betroffen.

Verlängerte Weihnachtsferien, nun wurde angekündigt, dass der aktuelle Lockdown bis zum 31.01. gelten werde, auf Wunsch der Bundeskanzlerin inklusive Schul- und Kitaschließungen. Kinder sind nun auch von den Kontakt-Regeln nicht mehr ausgenommen. Was macht das mit Kindern und Jugendlichen?

Hier kann man nur immer wieder auf die Stellungnahmen der Jugendverbände und Kinderrechtsorganisationen, von Kinderschutzbund, Kinderhilfswerk, von Kinderärzten und Psychologinnen verweisen. Das sind massive Einschränkungen von Kinderrechten, die enorme psychosoziale Folgen bewirken können. Es bleibt oft unbeachtet, dass sich schon während des Lockdowns im Frühjahrjahr 2020 Bundesliga und Baumärkte bereits lange vor der kleinsten Berücksichtigung von Kitas und Schulen großzügigster Öffnungen erfreuen durften, während zum Beispiel der außerschulische Bildungs- und Betätigungsbereich der Kinder und Jugendlichen (in Form von freier offener Jugendarbeit) sogar im Herbst/Winter 2020 immer noch nicht ausreichend berücksichtigt wurde.

Das Deutsche Kinderhilfswerk äußerte daher auch die Befürchtungen für die Zukunft, dass man aufgrund der bisherigen Maßnahmen „sehr viele Kinder und Jugendliche verlieren“ werde. Und Bayerns Ministerpräsident Marcus Söder hat dann auf der Pressekonferenz am 27. Oktober 2020 letztlich auch die Katze aus dem Sack gelassen, als er sagte: „Schule und Kita haben ja den Sinn und Zweck, die Wirtschaft am Laufen zu lassen“. Der instrumentelle Charakter schreit zum Himmel und von Bildung oder Kinderrechten ist keine Rede.

Sie sagen, dass die besonders vulnerablen Gruppen, Kinder aus ärmeren, unterprivilegierten Haushalten zum Beispiel – immerhin 20 Prozent der Kinder unter 18 Jahren und 25 Prozent der 18 bis 25-Jährigen – vom Lockdown besonders betroffen sind. Wie muss man sich das vorstellen?

In der reichen Bundesrepublik Deutschland wurde für Millionen Kinder und Jugendliche im Rechtskreis des sogenannten „Bildungs- und Teilhabepakets“ ab Mitte März 2020 von heute auf morgen das kostenlose Mittagessen in Kitas, Schulen und Jugendclubs eingestellt – dies ist übrigens seit Mitte Dezember 2020 abermals der Fall. Auch hier waren hunderttausende von Schülerinnen und Schülern mangels digitaler Mittel – wie zum Beispiel Zugang zu einem internetfähigen Computer in der Wohnung – vom sogenannten Homeschooling ausgeschlossen und so manche Lehrerin klagte darüber, dass sie mit einigen Schulkindern während des gesamten ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 keinerlei Kontakt herstellen konnten.

Weiterhin gilt, dass jene, die zuhause verschiedenste Möglichkeiten der Förderung haben – ein großes Haus, einen großen Garten, Pool, Akademikereltern, die wegen Homeoffice zuhause helfen können, oder sonstige Möglichkeiten der Bildung und Betätigung – ganz anders von Kontaktbeschränkungen, Homeschooling und sonstigen Maßnahmen betroffen sind als sozial benachteiligte Kinder – in einer kleinen Großstadtwohnung, ohne Garten, mit wenig Möglichkeiten sich sonst zu beschäftigen und ohne passende digitale Ausstattung sowie Förderung. Für letztere bedeutet ein Lockdown oft nochmal eine verstärkte Exklusion und für sie sind auch jetzt noch verschiedenste Maßnahmen wesentlich gravierender als für die Kinder, die sich entsprechend nicht in Armutsnähe befinden.

Sie haben damals im November auch gefordert, Kinderrechtsorganisationen und Jugendverbände mehr miteinzubeziehen. Nun haben Sie schon erwähnt, dass alle Entscheidungen immer noch über die Köpfe der Kinder und Jugendlichen hinwegfallen. Wie ist da denn genau die Lage?

Nach meinen Erkenntnissen haben Sachsen-Anhalt und Hessen, die beiden einzigen Bundesländer mit Landeskinderbeauftragten, versucht, inzwischen zumindest den Kontakt mit den betroffenen Kindern, Jugendlichen, Jugendverbänden und Kinderrechtsorganisationen wiederherzustellen. Doch auch die verschiedenen Austauschforen mit Kindern und Jugendlichen, an denen ich beteiligt war, kamen leider immer wieder nur zu dem Ergebnis, dass eine strukturierte Einbeziehung von Kinderrechtsorganisationen und Jugendverbänden weiterhin vorwiegend versäumt wird.

Wie nehmen Sie die Corona-Maßnahmen der Politik wahr? Was für Folgen wird das für die sogenannte „Generation-Corona“ haben, also für Kinder und Jugendliche, die mit der Pandemie aufwachsen müssen?

Ich halte nicht so viel von Prognosen neoliberaler Bildungsökonomen, die sich bereits jetzt fast darauf festlegen wollen, wie viel Gehalt, wie viele Jahre Lebenseinkommen und wie viel Rente die sogenannte Corona-Generation alleine durch den ersten Lockdown 2020 schon verloren hat. Denn dabei werden zumeist gesellschaftliche Kräfteverhältnisse ausgeblendet sowie die real existierende soziale Ungleichheit innerhalb der jeweiligen Generation. Kurz gesagt: Wer jetzt wohlhabend aufwächst sowie reich erbt und wer dann durch keine wirksamen Reichen-, Vermögen- und Erbschaftsteuern an den Kosten der Corona-Krise beteiligt wird, kann sich nur freuen. Die anderen mehr als 90 Prozent der jungen Generation werden dafür allerdings sehr hart arbeiten und dafür sehr viel bezahlen müssen, wenn dies nicht durch veränderte Kräfteverhältnisse und gerechtere Verteilungspolitik korrigiert wird.

Die Regierung hat offensichtlich das Infektionsgeschehen – den sogenanntem R‑Wert, der vom RKI berechnet wird und Rückschlüsse auf die Epidemie-Entwicklung zulässt – hauptsächlich im Blick. Was würden Sie den Entscheidern bei ihrer Corona-Politik diesbezüglich aber auch allgemein raten?

Die Regierenden sollten zumindest Wirkungen, Nebenwirkungen und Kollateralschäden ihrer Maßnahmen – auch außerhalb des R-Werts – in einem evidenzbasierten Prüf- und Abwägeverfahren ins Verhältnis setzen. Doch selbst wenn man diese reine R-Wert-Fixierung beibehält, häufen sich interessanterweise inzwischen auch in bislang überwiegend regierungskonformen Blättern wie der „Süddeutschen Zeitung“, der „Frankfurter Rundschau“, der „Berliner Zeitung“ oder der „Zeit“ Bedenken und Kritik an den Regierungsmaßnahmen. So hieß es kürzlich in einem Kommentar von „Zeit.de“ am 5. Januar 2021: „Dass Unternehmen egal welcher Art ihre Angestellten noch immer in Großraumbüros oder gar in Werkshallen zwingen können, während Kitas und Schulen aus Rücksicht auf das Virus geschlossen bleiben, ist ein Skandal. Dass er übersehen wird, zeigt eindrücklich, was in Deutschland im Ausnahmezustand zur Disposition steht und was eben nicht“.

Kein einziger Kommentar in den großen meinungsbildenden Zeitungen und Sendern hat sich nach den Beschlüssen der sogenannten Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin jedoch hinsichtlich der Corona-Maßnahmen der Regierung mit Folgendem kritisch auseinandergesetzt: In Deutschland werden – mitten in der Pandemie! – weiterhin Krankenhäuser geschlossen, Fachkräftemangel wird seit Jahren hingenommen und die dafür verantwortlichen Politiker maßregeln nun die Bevölkerung dafür.

Volle Schulbusse, nicht hygienegerechte Bildungseinrichtungen und die dafür seit vielen Jahren verantwortlichen Politiker bestrafen nun die Schüler, Kita-Kinder, Erzieherinnen, Lehrerinnen und Eltern dafür.

Wie Jens Berger am 5.1.2021 auf „Nachdenkseiten.de“ schrieb, ist der Rückgang von Inzidenzwerten über den Jahreswechsel womöglich nicht einmal wirklich dem Lockdown geschuldet, sondern schlicht der Tatsache, dass Millionen Beschäftigte, die sonst kein Homeoffice machen können, Brückentage genommen haben. Das hieße jedoch, dass mit etwas Verzögerung die Inzidenzwerte wieder steigen könnten, einfach, weil die Beschäftigten wieder in riskante Verkehrsmittel und an riskante Arbeitsstätten zurückkehren müssen. Wenn dies passiert, werden abermals die dafür verantwortlichen Politiker und Unternehmen die „Disziplinlosigkeit“ der Bevölkerung rügen, statt endlich pandemiegerechte Politik zu betreiben.

All das betrachte ich als neoliberale Privatisierung aller sozialer und gesundheitlicher Risiken, wonach bislang geredet, gehandelt und verordnet wird. Dazu passt dann auch, dass in pseudonostalgischen Werbefilmchen der Bundesregierung – aus der Zukunft ins Jahr 2020 wie in Kriegszeiten zurückblickend – auf fast allen Fernsehsendern Ende 2020 unter dem Slogan „besondere Helden“, offenbar an sogenannte Kriegshelden anspielend, für das Zuhausebleiben junger Erwachsener geworben wurde.


Die jungen Menschen werden dabei aufgefordert, mit Fast Food und Cola vor dem Fernseher zu „verschimmeln“, während weder die wirklichen Sorgen junger Erwachsener um ihren Ausbildungs- oder Arbeitsplatz und ihren Lebensunterhalt, noch die Sorgen derjenigen – meist junger Leute – berücksichtigt werden, die das Schnell-Essen herstellen, zubereiten und liefern sollen, welches die „besonderen Helden“ vorm Fernseher verzehren.

Soweit zur aktuellen, desolaten Lage. Was müsste besser gemacht werden?

Sinnvolle Maßnahmen bestünden zunächst einmal darin, eine ehrliche Bestandsaufnahme dessen vorzunehmen, wie sich Deutschland in der Corona-Krise entwickelt hat. Viele Millionen Menschen wurden in Kurzarbeit geschickt. Durch das wegfallende Einkommen entstehen tendenziell Armutslagen und soziale Polarisierung. Durch Corona-Maßnahmen werden die Bildungsungleichheiten noch zunehmen. Hinzu kommt, dass die in der Regel etwa 20 Prozent höheren Einkommen der Männer wieder deutlicher an Bedeutung gewinnen und die Re-Traditionalisierung geschlechtlicher Arbeitsteilung begünstigen; gerade wenn die Kinder nun wieder zuhause bleiben müssen. Eine Re-Privatisierung sozialer Risiken wird befördert, wonach jeder seines eigenen gesundheitlichen, familiären und gesellschaftlichen Glückes Schmied sei. Dies sind eindeutige Hinweise auf einen gesellschaftlichen Rückschritt im neoliberalen Zeitalter.

Bei der Beratung zu sinnvollen und solidarischen Maßnahmen müssen die Perspektiven und die Partizipation der Kinder in den Vordergrund rücken. Daran anknüpfend gilt es: Konzepte zur Armutsbekämpfung zu entwickeln. Wichtig ist die Förderung sozialer Infrastruktur, das heißt zum Beispiel von Vereinen und Jugendclubs, mit denen Kinder und Jugendliche sich besser einbringen können. Konkret heißt das erstens, dringend Maßnahmen gegen Armut und zur sozialen Absicherung der Kinder und Familien zu ergreifen. Zweitens müssen die kinderrechtlichen Prinzipien des Kindeswohlvorrangs, des Schutzes, der Förderung und vor allem der Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Jugendverbänden (wieder) aufgebaut beziehungsweise umgesetzt werden. Damit verbunden sind, drittens, Maßnahmen für einen pandemiegerechten Ausbau der sozialen Infrastruktur im Wohnumfeld – vor allem mittels Jugendhilfe und offener Arbeit.

Michael Klundt ist Professor für Kinderpolitik im Studiengang Angewandte Kindheitswissenschaften der Hochschule Magdeburg-Stendal. Er lehrt und forscht unter anderem zu den Themen Kinderarmut und -reichtum sowie Kinder-, Jugend-, Familien- und Sozialpolitik. "

Quelle: SNA News (Deutschland)

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