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Wie der Tilsiter-Käse aus der Schweiz in die russische Heimat zurück kommt

Archivmeldung vom 08.08.2009

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 08.08.2009 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Markus Rohner Bild: maiak.info
Markus Rohner Bild: maiak.info

Schweizer Auswanderer hatten im späten 19. Jahrhundert die Kunst des Käsens in das damalige Ostpreussen (heute Russland) gebracht. 1890 lernte der Thurgauer Käseexporteur Otto Wartmann auf einer Geschäftsreise in das ostpreussische Tilsit das Rezept des gleichnamigen Käse kennen und brachte es in die Schweiz.

Fünf Generationen später besucht sein Urenkel Otto Wartmann die Stadt Tilsit, die heute Sowetsk heisst, und erlebt dabei wunderliche Dinge.

Sein Urgrossonkel holte das Rezept aus Tilsit in die Schweiz. Der Schweizer Käser Otto Wartmann bringt nun fünf Generationen später den echten Tilsiter zurück in seine russische Heimatstadt Tilsit (heute Sowetsk).

Otto Wartmann produziert schon in fünfter Generation den Schweizer Tilsiter: Auf dem “Holzhof” im Kanton Thurgau käst die Familie Wartmann seit 1893 Tilsiter, ab 1993 unter dem geschützten Markenname “Tilsiter Switzerland”.

Otto Wartmann weiss aber, dass sein Urgrossonkel Otto Wartmann das Rezept für den Tilsiter aus der Fremde in die Schweiz brachte. Genauer aus der “Milchbude” in der damals  ostpreussischen Stadt Tilsit. Deshalb macht sich Otto Wartmann auf den Weg nach  Sowetsk * Советск, wie die Stadt in der russischen Exklave Kaliningrad heute heisst.

Personenkult der Sowjetunion prägt Sowetsk bis heute

Als ob es  Perestroika,  Glasnost und  Gorbatschow nie gegeben hätte, steht die Lenin-Statue wie eh und je auf dem Hauptplatz von Sowetsk. An der Rathauswand prangt ein riesengrosses Plakat, auf dem ein mit Orden geschmückter Offizier an den 9. Mai erinnert, dem Tag der  bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht, an dem für die Sowjetunion der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen ist.

Wer jetzt noch nicht genug hat vom Personenkult der alten Sowjetunion, begibt sich in den Speisesaal des Hotels Rossija, wo an der Wand ein riesengrosses Porträt von  Leonid Breschnew hängt, dem Parteichef der  Kommunistischen Partei der Sowjetunion KPdSU von 1964 bis 1982.

Wo ist der bodenständige Thurgauer Käser und Bauer Otto Wartmann, da nur hingeraten? Aber alle sowjetischen Devotionalien können ihn nicht davon abhalten, die Kleinstadt mit ihren 43′000 Einwohnern mit wachsendem Interesse zu erkunden. Denn unvertraut ist dem 50jährigen Wartmann dieses Sowetsk nicht: am Familientisch der Wartmanns auf dem “Holzhof” wurde immer wieder über Tilsit gesprochen.

Tilsiter war 1890 ein preussischer Markenartikel

Dorthin nämlich ist nämlich 1890 der Käseexporteur Otto Wartmann der Erste gereist, und lernte im damaligen Ostpreussen jenen legendären Käse kennen, dessen Rezept und Namen er in die Schweiz brachte. Der Name leitet sich übrigens ab vom Flüsschen Tilse * Тыльжа, das hier in die Memel fliesst. In der  altpreussischen Sprache war “Tilse” der Begriff für ein Sumpfgebiet.

Als im späten 19. Jahrhundert Käser und Melker aus der Schweiz zu Hunderten nach Ostpreussen ausgewandert sind und dort auf Wunsch der deutschen Reichsregierung die Milchverarbeitung auf Vordermann gebracht haben, war diese äusserste Ecke des deutschen Reiches alles andere als ein Sumpf: Das blühende Land an der Memel galt als die Kornkammer Deutschlands, in der viele Bauern und Käser ein sicheres Auskommen fanden. Bis heute tragen die (vorwiegend weiblichen) russischen Melkerinnen die Berufsbezeichnung Швейцарская * Schweizarskaja.

Der Käse aus Tilsit war ein preussischer Markenartikel, in ganz Deutschland und weit darüber hinaus ein beliebtes Lebensmittel. Vor allem wegen seiner runden Form und handlichen Grösse, sowie der Möglichkeit, den Fettgehalt des Käses von 30 bis 60 Prozent Fett in der Trockenmasse den Kundenwünschen anzupassen.

Einige Jahrzehnte nachdem Otto Wartmann der Erste mit dem Rezept in die Schweiz zurückkehrte und 1893 auf seinem Hof mit der Herstellung von Tilsiter-Käse begann, ging es mit Tilsit bergab: Gegen Kriegsende wurde die Stadt von der  Roten Armee praktisch vollständig zerstört, deren 60′000 Einwohner vertrieben und Tilsit umgetauft in Sowetsk. Die ostpreussische Geschichte des Tilsiters ging vergessen. Stattdessen begann eine aussergewöhnliche Käsegeschichte “Made in Switzerland”.

Käse und Napoleon

120 Jahre, fünf Generationen und verschiedene weltgeschichtliche Eruptionen später, empfängt Oberbürgermeister Wiktor Eduardowitsch Smilgin seinen Besucher Otto Wartmann den Fünften im Rathaus. Auf dem Tisch liegt ein roter “Tilsiter Switzerland”, ein kräftiger Käse aus Wartmanns Käserei.

Zuerst werden nette Worte ausgetauscht, bis der Oberbürgermeister zur Sache kommt: Ihm sei es ein grosses Anliegen, den einst bekannten Namen seiner Stadt, wo Napoleon 1807 einen Friedensvertrag mit den Russen und Franzosen unterzeichnet hat, wieder in die Welt hinaus zu tragen. “Dazu ist der Käse natürlich ein idealer Botschafter”, sagt der Bürgermeister.

Er spricht von der “Kultur des Käses” und lobt die Ausstellung über den Thurgauer Tilsiter, die anderntags im Stadtmuseum eröffnet werden wird. Zum Schluss der kurzen Visite probiert der Oberbürgermeister ein Stückchen Schweizer Käse. Ob ihm der kräftige Rote geschmeckt hat, wollte er seinen Gästen nicht verraten.

Echten Schweizer Tilsiter-Käse nach Tilsit bringen

Dass die Thurgauer mit ein paar Kilos echtem Schweizer Tilsiter-Käse nach Tilsit gereist sind, war kein Wasser in den Rhein getragen. Wer heute in der Grenzstadt zu Litauen nach einem Tilsiter Ausschau hält, findet in der Markthalle zwar manchen einheimischen Käse, aber dieser entspricht nicht den Vorstellungen eines mitteleuropäischen Käsekonsumenten.

Die Begeisterung über den russischen Käse hält sich bei den Spezialisten aus dem Thurgau in engen Grenzen. “Fast ungeniessbar, mit ranzigem Geschmack”, beendet Bruno Buntschu, Geschäftsführer der Sortenorganisation Tilsiter, für Schweizer Verhältnisse sehr undiplomatisch die Degustation. Und Otto Wartmann der Fünfte, der auf seinem Hof jedes Jahr rund 150 Tonnen Tilsiter Käse herstellt, weist auf die unangenehme Buttersäure des russischen Käse hin, die von der Fütterung der Kühe durch so genannte  Silage stammt.

Es ist schwer, im einstigen Käseland einen für Schweizer Münder ansprechenden Käse zu finden. Im Stadtmuseum lobt der Bürgermeister nichtsdestotrotz die grosse Käsetradition seiner Stadt und schwärmt von einer engeren Zusammenarbeit mit den “Tilsitern aus der Schweiz”.

Käsefabrik von Slawa macht ihrem Namen keine Ehre

Die Schweizer machen die Probe aufs Exempel und besuchen zehn Kilometer ausserhalb von Tilsit eine Käsefabrik. Der Empfang in  Slawsk * Славск ist herzlich. “Wir produzieren jedes Jahr rund 200 Tonnen Käse”, sagt der Direktor und präsentiert den Schweizern stolz Käse aus eigener Produktion. Er macht dem Namen Slawa (russisch für “ruhmreiche Stadt”) allerdings keine Ehre: Der Käse schmeckt fade und ist ohne jeden Geschmack, weil er viel zu jung konsumiert wird.

Bis 1945, damals hiess das Kleinstädtchen mit 5′000 Einwohnern Heinrichswalde, stellte hier ein Deutscher Käse nach traditioneller Art her. Als er vor der Roten Armee die Flucht ergreifen musste, nahm er auch sein Fachwissen und die Leidenschaft für den Käse mit. Erst 1967 begannen die Russen auf dem Gelände mit der eigenen Käseproduktion.

“Nein, leider ist es nicht möglich, einen Rundgang durch die Käserei zu machen”, erklärt der Direktor. Keiner der 50 Angestellten sei zurzeit an der Arbeit. Die Schweizer reagieren erstaunt. Nach langem Hin und Her, und nachdem sie ihm ein Kilo echten Schweizer Tilsiter in die Hand gedrückt haben, bricht das Eis und sie begeben uns doch noch auf den Rundgang – durch leere Hallen und Lager. An diesem Tag ist hier kein Liter Milch geflossen, und nur ein paar wenige Käselaibe sind zu sehen. “Wir produzieren erst dann, wenn auch Bestellungen vorliegen”, sagt der Chef.

Russischer Gegenbesuch in der Schweiz

Schon wieder auf dem Heimweg, zwei Autostunden von Sowetsk entfernt in Kaliningrad, findet Otto Wartmann der Fünfte an der Gagarinstrasse doch noch wirklich guten Käse. Im Käseladen von Jewgeni Jarmoluk bekommt der Käsefreund aus Mitteleuropa fast alles, was sein Herz begehrt: Greyerzer, Appenzeller, Tête de Moine, viele italienische, spanische und französische Käse.

“Nein, den russischen Tilsiter haben wir nicht im Verkauf”, sagt Jarmoluk. Den Tilsiter importiert er lieber aus Polen oder Litauen, weil halt nur dieser seinen Anforderungen entspreche. Aber auch Tilsiter aus der Schweiz würde er gern in der Vitrine sehen.

Um viele Eindrücke reicher kehrt der Schweizer Tilsiter-Produzent und Urenkel von Otto Wartmann dem Ersten in den Thurgau zurück, wo er bald einen Gegenbesuch erhält: Im August wird Bürgermeister Wiktor Eduardowitsch Smilgin mit einer Delegation aus dem russischen Tilsit auf Wartmanns “Holzhof” im Thurgau erwartet, um dort alles über “seinen” Tilsiter erfahren. Ein Käse, der seine Wurzeln in Ostpreussen hat, aber längst ein echtes Schweizer Milchprodukt geworden ist.

Quelle: maiak (Markus Rohner)

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