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Forscher suchen rätselhafte Saurichthy-Fische in den Alpen

Archivmeldung vom 20.02.2009

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 20.02.2009 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Oliver Randak

Der Monte San Giorgio ist ein lohnenswertes Ziel, wenn man als Paläontologe eine Garantie haben möchte, auf Saurier- und Fischfossilien zu stoßen. Der Berg befindet sich im schweizerischen Kanton Tessin und das Gebiet um ihn herum wurde 2003 von der UNESCO zum Weltnaturerbe ernannt.

Die sechs Menschen widmen ihre ganze Aufmerksamkeit dem Boden. Einige liegen auf der Seite und scharren am Gestein herum, andere nehmen unscheinbare Bruchstücke unter die Lupe. Sie suchen nach einem Schatz direkt unter der Erdoberflache: Es geht um eine reichhaltige Fossilienlagerstätte, in der sich einzigartiger Saurier- und Fischspezies finden. Die Grabungsstelle befindet sich in knapp 1.000 Meter Höhe nahe beim Gipfel des Monte San Giorgio im Schweizer Kanton Tessin. Die italienische Grenze ist keine drei Kilometer entfernt. Knorrige Eichen und stattliche Buchen überziehen hier die Hänge, darunter gedeihen im Sommer seltene Arten wie Alpenveilchen und Christrosen. Seit dem Jahr 2003 gehört das Areal zum Unesco-Weltnaturerbe.

"Die fossilienführende Schicht ist an dieser Stelle etwa drei Meter mächtig, und wir sind erst einen Meter tief darin vorgedrungen", erklärt Grabungsleiter Rudolf Stockar, Paläontologe und Konservator am Tessiner "Museo cantonale di storia naturale" in Lugano, im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Der Wissenschaftler nimmt eine Steinplatte, bricht sie entzwei, und lässt den Besucher daran schnuppern. Es riecht nach Erdöl. Kalkschiefer, doziert Stockar, ist biologischen Ursprungs und entstand aus Skeletten einzelliger Organismen.

Der Monte San Giorgio ist nichts anderes als ein aufgewölbtes Stück urzeitlicher Meeresboden. Vor rund 240 Millionen Jahren, also während der mittleren Trias, war dieser Bereich Teil einer weitläufigen Lagune. Eine Kette aus Inseln, Riffen und Kalksandbarrieren grenzte sie wohl weitgehend vom prähistorischen Tethys-Ozean ab. Der Wasseraustausch erstarb zwar nicht vollständig, wurde jedoch stark verringert - mit weitreichenden Folgen: Im tieferen Bereich der Lagune ging den Lebewesen der Sauerstoff aus, in den oberen Wasserschichten dagegen sorgten vor allem Wind und Wellen für Belüftung. Außerdem strömte wohl nährstoffreiches Süßwasser von Land ein 

Ein zweigeteiltes Ökosystem entstand: Oben gedieh vielfältiges Leben, von einzelligen Algen bis zum skurrilen tintenfisch- und fischfressenden Giraffenhalssaurier. Unten hingegen dehnte sich eine Todeszone aus, in der jeder darin vordringende Organismus erstickte, ausgenommen anaerobe Bakterien. Eine ähnliche Situation findet man heute im Schwarzen Meer, und zum Teil auch in der Ostsee.

Für die Forschung erweisen sich die damaligen Bedingungen als Segen. Alles, was von oben in die sauerstofflose Tiefe herabsank, wurde für Aasfresser unerreichbar und verweste zudem nicht vollständig. Wie ein Leichentuch legte sich feiner Schlick über die Kadaver von Fischen und Meeressauriern, bis sie irgendwann vollkommen im Schlammboden eingebettet waren. Im Laufe der Jahrmillionen wuchs das Sedimentgestein zu Schichten von hunderten Metern Mächtigkeit heran. Der gewaltige Druck presste alles zusammen, Knochen mineralisierten. Die Reste von organischem Material wandelten sich in Kohlenwasserstoffe um. Daher auch der erdölige Duft des Kalkschiefers.

Die fossilienreichste Schicht des Monte San Giorgio ist die so genannte Grenzbitumenzone, die aufgrund ihres hohen Kohlenwasserstoff-Gehalts als Ölschiefer klassifiziert wird. In diesen Ablagerungen gruben Forscher bereits Mitte des 19. Jahrhunderts erstmalig Ichthyosaurier und Überreste anderer Urtiere aus. Die aktuellen Untersuchungen gelten jedoch den etwas jüngeren Cassina-Schichten. Sie enthalten vor allem faszinierende Fischfossilien. 

Man habe an diesem Fundort schon mehr als 200 Saurichthys gefunden, aus sämtlichen Altersstufen, schwärmt Rudolf Stockar. "Und fast alle sind perfekt erhalten." Besonders interessant: Manche dieser schlanken Fische, die den heute lebenden Hornhechten, den Belonidae, ähnlich sahen, waren zum Zeitpunkt ihres Todes hochschwanger. Sie hatten weitentwickelte, zusammengerollte Saurichthys-Embryonen im hinteren Bereich der Leibeshöhle. Die Gattung war demnach lebendgebärend oder brütete ihre Eier im Mutterleib aus.

Früher ging es praktisch nur darum, spektakuläre Saurierskelette zu finden und zu bergen, etwa als der Züricher Naturforscher Bernhard Peyer um 1920 hier am Berg arbeitete. Doch heute wollen die Forscher mehr: "Ziel dieser Grabung ist, alle Details genau zu dokumentieren und so die Ökologie des damaligen Lebensraums zu studieren", sagt Rudolf Stockar. So kann die genaue Lage der Skelette wertvolle Information über Strömungen und andere ökologische Bedingungen des Mittleren Trias liefern. 

Wieviel Akribie in der Praxis nötig ist, lässt sich wenig später beobachten. Eine der Studentinnen hat an der Oberfläche einer Steinschicht eine verdächtige Wölbung entdeckt. An der Bruchfläche zeigen sich eingelagerte braune Strukturen: fossile Knochen. Das Skelett ist offenbar zweigeteilt. Der vordere Teil macht eine sichtbare Kurve. Stockar schließt daraus, dass es sich um einen weiteren Saurichthys handeln dürfte. Die liegen oft gekrümmt als Folge der Totenstarre, erläutert der Fachmann. "Hier ist wahrscheinlich der Schädel", sagt er, und zeigt auf einige undeutliche Faltungen. Doch wo ist die hintere Hälfte des Fisches?

Bevor die Suche nach dem fehlenden Teil beginnt, werden die Kenndaten der Schieferplatte mit Kreide aufgetragen: Orientierung nach Himmelsrichtung, Neigungswinkel und Schichtnummer. Dann nimmt Rudolf Stockar eine kleine elektronische Kreissäge zur Hand und schneidet großflächig um das Fossil herum. Vorsichtig wird die Platte angehoben. Das Gestein bricht leicht. Die einzelnen Stücke werden auf eine Styroporplatte gelegt und später für den Transport fixiert. Nun wendet sich der Forscher den Scherbenhaufen neben der Fundstelle zu. Irgendwo darin müsste sich der Rest des Fossils befinden. Wegen einer Verwerfung, der einen Teil der Schichtung absacken ließ, hat man die Versteinerung wohl nicht früher bemerkt. Tatsächlich finden sich schon bald die ersten fehlenden Schieferscherben. 

Die meiste Arbeit findet später im Labor statt. Die Präparation eines einzelnen Saurichthys-Skeletts braucht in der Regel etwa 60 Stunden. Sie kann allerdings auch bis zu 200 Stunden dauern, berichtet Urs Oberli. Der bärtige Präparator hat soeben ein weiteres Fossil entdeckt. "Mehr als 230 Millionen Jahre alt, und es hat noch kein Menschenauge gesehen", sagt er mit einem spitzbübischen Lächeln auf dem Gesicht.

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