Schuld ist der "Trödelfaktor"
Archivmeldung vom 08.08.2008
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Freigeschaltet durch Oliver RandakEben noch fließt der Verkehr, plötzlich steht alles. Und das ohne Baustelle oder Unfall. Verkehrsphysiker Professor Dr. Kai Nagel weiß, wie Staus aus dem Nichts entstehen. Viel kann man dagegen nicht tun, aber man weiß wenigstens, wer schuld am Dilemma ist.
Schon seit Anfang der neunziger
Jahre beschäftigen sich die beiden Verkehrsphysiker Nagel,
Fachgebietsleiter "Verkehrssystemplanung und Verkehrstelematik" am
Institut für Land- und Seeverkehr der Technischen Universität (TU)
Berlin, und Kollege Professor Michael Schreckenberg von der Universität
Duisburg-Essen eingehend mit dem Phänomen "Stau aus dem Nichts". So
wird eine Form des Verkehrsstaus bezeichnet, die ohne Ursache wie
Unfall oder Baustelle zustande kommt. Mathematisch haben die beiden
dieses Phänomen gut im Griff, eine schnelle Lösung für viele Staus in
der Ferienzeit liefert die reine Wissenschaft leider nicht. Mit
stillgelegten Tunnelröhren, Spurverengungen durch Baustellen und die
Behinderungen durch Unfälle beschäftigt sich das Modell nämlich nicht.
Nur mit wenigen Wagen auf freier Strecke entstehen diese Staus nicht,
typisch ist eine stark benutze Fahrbahn an der Kapazitätsgrenze.
Verhältnisse, wie sie an jedem Ferienwochenende herrschen. Besonders ärgerlich: Anders als bei einer Vollsperrung nach
einem Unfall, scheinen diese Staus vermeidbar zu sein. Was läuft also
auf den Straßen schief, wenn es ohne erkennbaren Grund zu zähfließendem
Verkehr kommt, Stop-and-go-Situationen entstehen, die in letzter
Konsequenz zum Stillstand führen? Allein am Verkehrsaufkommen kann es
nicht liegen, auch wenn das Straßennetz überlastet ist. Was ist
passiert, wenn es nur noch Stoßstange an Stoßstange im mühsamen
Schneckentempo vorangeht? Dass man womöglich selbst zum Stillstand
beiträgt, wollen die wenigsten wahrhaben oder: wissen die wenigsten.
Botschaft: selber schuld!
Und genau da haben die beiden Physiker Nagel und Schreckenberg angesetzt und sich dem Stau-Phänomen zunächst spielerisch angenähert. "Physiker sind generell etwas verspielt", sagt Kai Nagel, "wir haben viel mit diesen Zellular-Automaten gespielt, auch in anderen Zusammenhängen." Ein Zellular-Automat besteht aus einem regelmäßigen Raster, in dem viele gleichartige Zellen angeordnet sind, in denen per Computer bestimmte Bewegungsabläufe simuliert werden. "Deshalb waren die Alternativ-Antworten bei Jauch auch gar nicht so blöde", sagt Nagel, "denn es gibt ähnliche Modelle für Börsenkurse oder Sanddünen und wir haben es damals eben mit dem Stau versucht. Und erkannt, dass man mit einem solchen Modell Menschen und Verkehr viel realistischer simulieren konnte als mit allem bisher da Gewesenen."Wer bremst, macht Stau
Also: Wenn der Fuß vom Gas genommen wird, muss das Auto dahinter auch abbremsen oder langsamer fahren. Doch um den Verkehr im Fluss zu halten, müssten alle Autofahrer immer einen konstanten Abstand zueinander halten oder sich stillschweigend einig sein, gemeinsam langsamer zu fahren. Da es sich bei Autofahrern aber bekanntlich nicht um Roboter handelt, sondern um Menschen, führen diese Kettenreaktionen zwangsläufig zum Stillstand. Auch wenn die ersten Autos irgendwann wieder anfahren, löst der Stillstand sich nicht gleich auf, denn hinter ihnen haben sich mittlerweile immer mehr Autos angesammelt. Dumm nur, dass derjenige, der den Stau auslöst, nie im Stau stehen wird. Verschärft wird der Effekt, wenn hohes Verkehrsaufkommen auf relativ hohe Geschwindigkeiten trifft. In dem Moment in dem der Fahrer die Rotlichtwelle der Bremsenden auf sich zukommen sieht, wird ihm plötzlich bewusst, dass sein Abstand zum Vordermann knapp bemessen ist. Er bremst dann stärker als die Fahrzeug vor ihm, um den Abstand zu vergrößern. Entsprechend stärker muss hinter ihm reagiert werden. Erfolgen einige solcher an sich verständlicher Reaktionen hintereinander, steigert sich ein "sanftes" Abbremsen zu rabiaten Verzögerungen. Das Problem wird so von vorne nach hinten weitergereicht und verschärft. Das kann sogar dazu führen, dass weit hinter dem ersten Bremser ein Fahrer nicht mehr reagieren kann und es zu einem Auffahrunfall kommt. Dann steht der Verkehr erst recht.Mathematik zum Anschauen
Für Physiker Nagel ist Nagel-Schreckenberg-Modell aber auch nur eines von vielen anderen Modellen, die versuchen, dem Phänomen des Staus auf den Grund zu kommen. Damit er Staus nicht nur in der Simulation erforschen muss, stellt er sich auch gerne mal morgens in aller Herrgottsfrüh mit der Kamera in Berlin auf eine Autobahnbrücke und schaut fasziniert zu, wie sich vor seinen Augen der Verkehr langsam zuzieht. "Da stehen drei Autos, dann kommt von hinten eins, das sich anstellt, und das vordere fährt weg, und die Welle läuft rückwärts. Und man sieht dann sehr genau, wie das ausgelöst wird, wie das so ganz langsam passiert die Leute erst ein bisschen langsamer fahren, dann etwas stärker langsamer fahren. Diese Kettenreaktion, dass jeder ein bisschen was dazu tut, bis dann irgendwann der Stillstand da ist. Das ist tatsächlich beobachtbar."Simulation von Metropolen
Mittlerweile arbeitet Nagel mit seinem Team an so genannten "mikroskopischen Städten", wo er an Modellen real existierender Metropolen simuliert, wie sich deren Bürger im Verkehrssystem bewegen. "Da können wir dann Änderungen simulieren", sagt Nagel, "in dem wir zum Beispiel Autobahnen verlängern oder andere bauliche Maßnahmen vornehmen und dann sehen, wie sich Verkehrsströme ändern."Auf die Frage, was Otto Normalverbraucher an Lehren aus dem Nagel-Schreckenberg-Modell ziehen kann, mit dem Oliver Pocher bei Günther Jauch eine Million Euro für die "Per Mertesacker Stiftung" und die "McDonalds Kinderhilfe" gewann, sagt Kai Nagel kurz und bündig: "Eigentlich nichts." Vielleicht baut er noch ein Computerspiel daraus, "wo man verschiedene Parameter verändern kann und dann sieht, wann es wodurch zum Stau kommt". Seine Hoffnung: Dass Otto N. damit seine Fahrweise spielerisch ändert und genauso schnell wieder beschleunigt, wie er abgebremst hat. Und zwar auf der Autobahn draußen, in der Realität.