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Riesenkrabbler erobern Deutschland

Archivmeldung vom 17.05.2008

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 17.05.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Oliver Randak

Sie sind schwarz, fast 20 Zentimeter groß und rotten sich in Scharen auf Hauswänden zusammen: Eine beispiellose Invasion von Weberknechten in Deutschland, Österreich und der Schweiz verblüfft Spinnenexperten. Niemand weiß, woher die Tiere stammen - und es werden immer mehr.

Sabrina aus Lausen in der Nordwestschweiz blieb bei der ersten Begegnung mit den Aliens wie angewurzelt stehen: "Puh, bin ich da erschrocken! War das ein Schock!" Andere Augenzeugen empfanden das Auftreten der Fremdlinge als "absolut unglaublich" und "in der Tat beunruhigend". Selbst Axel Schönhofer, Doktorand an der Universität Mainz und von Fach her an allerlei krauchendes Getier gewohnt, muss zugeben, dass die Körperstatur der unheimlichen Einwanderer "natürlich furchteinflößend" wirkt. Sein Doktorvater Jochen Martens wiederum spricht von "regelrecht bedrohlichen Ansammlungen" der Invasoren und "schwarzen Metapopulationen".

m Herzen Europas trägt sich Schauderhaftes zu - jedenfalls nach der Wahrnehmung von Leuten mit ausgeprägter Angst vor Spinnentieren: In den Niederlanden und in Deutschland breitet sich eine neue und rätselhafte Weberknecht-Art rapide aus. Auch Österreich und die Schweiz hat sie schon erreicht. Die Tiere haben eine Bein-Spannweite von bis zu 18 Zentimetern, rotten sich zu Horden von Hunderten, mitunter gar Tausenden Individuen an Mauern oder Hauswänden zusammen und lösen Panikgefühle bei fast jedem aus, der ihnen zu nahe kommt.

"Die ganze Gruppe fängt dann an, sich zu bewegen", beschreibt Zoologie-Professor Martens das Abwehrverhalten der Achtbeiner, "die Körper schwingen zwischen den schwarzen Beinen auf und nieder, und das kann immer schneller passieren, je stärker sich diese Gruppe erregt". Sinn und Zweck der konzertierten Leibesübung: Die Tiere verschwimmen förmlich vor den Augen eines potentiellen Fressfeindes. Beruhigend immerhin: "Angesprungen", so beteuert Martens, "wird man nicht."

Woher kommen die Tiere?

Schönhofer berichtet von einer Frau, die Folgendes geschrieben habe: "Ich geh' jetzt mal in meinen dunklen Schuppen, da hängen so Spinnen an der Decke, und versuche, ein Foto zu machen". Danach, so der Mainzer Biologe, "hat sie sich nie wieder gemeldet". Er glaube aber nicht, "dass da irgendwas passiert ist". Wobei man an dieser Stelle erwähnen darf: Die feingliedrigen Weberknechte sind strenggenommen gar keine Spinnen, sondern bloß enge Verwandte. Zusammen mit Skorpionen, Pseudoskorpionen, Milben und Spinnen gehören sie zur Klasse der "Spinnentiere" (lateinisch: Arachnidae). Und sind, wie Martens versichert, "absolut ungiftig und sondern auch sonst keine ekelhaften Sekrete ab".

In Internet-Foren wird seit Wochen mit spürbar nervöser Anspannung über die ominösen Aliens diskutiert, unter den wenigen Spezialisten und Laien, die die heimlichen Einwanderer bisher zu Gesicht bekamen. Der Niederländer Hay Wijnhoven gilt als ihr Erstentdecker in Europa. Zusammen mit Martens und Schönhofer hat er soeben erstmals einen Artikel über die großen Unbekannten publiziert, in den "Arachnologischen Mitteilungen".

Die ersten Ansammlungen der Weberknechte tauchten in der Nähe der holländischen Stadt Nimwegen auf. Inzwischen ist die Art mit den dürren schwarzen Beinen, auffallend hellen Gelenken und einem metallischgrün schimmernden Panzer laut Axel Schönhofer "relativ weitverbreitet gemeldet worden, bis an die deutsche Grenze". Hierzulande trat sie schon im Ruhrgebiet, in der Eifel, im Saarland und in Koblenz in Erscheinung. Eine Meldung aus Wiesbaden ist noch nicht verifiziert.

Als spektakulärster Fundort darf bisher die Ruine der Neuen Isenburg mitten im Stadtwald von Essen gelten. Viel ist von dem Gemäuer nicht übrig geblieben, kaum mehr als ein paar Torbögen und Mauerreste. Doch den Zugereisten genügt das offenbar: Genau 466 einzelne Weberknechte zählte die Hobby-Naturforscherin Karola Winzer am 16. September 2007 in der Burgruine. Es waren "mehrere Gruppen, die teilweise ineinander übergingen", wie die Informatikerin protokollierte.

"Alles, was nicht wirklich robust ist, wird überwältigt"

Für Jochen Martens ist das Erstaunlichste an dem Fund, "dass niemand erklären kann, wie die dort hingekommen sind". Noch mehr fuchst den Weberknecht-Experten, dass er die fremde Art bis heute nicht identifizieren konnte - trotz genetischer Untersuchungen und einer gewissenhaften Recherche im Frankfurter Senckenberg-Museum, das eine umfangreiche Weberknecht-Sammlung beherbergt. "Nirgendwo war diese Art dabei", grämt sich der Mainzer Hochschullehrer: "Im Grunde tappen wir völlig im Dunkeln."

Klar ist so weit nur: Tagsüber ruhen ausgewachsene Tiere im Pulk, bevorzugt in schummrigen Mauerwinkeln, an glatten Hauswänden und unter Dachvorsprüngen. Nachts löst sich die Versammlung auf, die Räuber schwirren einzeln zur Jagd aus. "Alles, was nicht wirklich robust ist, wird überwältigt", hat Axel Schönhofer beobachtet: "Weil die Weberknechte sehr feingliedrig sind, fressen sie auch nur andere, sehr feingliedrige Tiere wie Mücken, Schnaken oder kleinere Fliegen."

Die Vermutung ist, dass die langbeinigen Schlackse an Bord von Containerschiffen aus Übersee eingeschleppt wurden, vielleicht im Hafen von Rotterdam. "Theoretisch reicht ein schwangeres Weibchen", sagt Wolfgang Nentwig, Professor für Ökologie an der Universität Bern in der Schweiz, "wenn ein Kokon, ein Ei-Gelege, verschleppt wird, dann schlüpfen daraus gleich 50 oder 500 Tiere." Dann, so der deutsche Spinnenexperte, "haben wir von Anfang an fast schon eine Population".

Biologen tappen im Dunkeln

Doch woher stammt der Arachno-Alien? Jochen Martens fiel sogleich eine Art aus Mexiko ein, "die in Kandelaber-Kakteen Aggregationen von Zehntausenden Exemplaren bildet". Auch Wolfgang Nentwig, Spinnenspezialist und Professor für Ökologie an der Universität Bern, erinnert sich, in Lateinamerika schon mal Weberknechte en masse gesehen zu haben, "die alle ins Wippen kamen, als ich mich näherte". Doch die vermeintlich heiße Spur führte in die Irre: "Die sehen völlig anders aus", wie Axel Schönhofer beim Arten-Abgleich schnell feststellte.

Die Mainzer Zoologen sind von den erfolgreichen Invasoren gleichermaßen fasziniert wie irritiert. "Das Spannende ist, dass wir vor unseren Augen sehen können, wie sich eine eingeschleppte Art bei uns massiv ausbreitet", sagt Zoologieprofessor Martens. Vor allem lasse sich nun analysieren, "was wohl die Ursachen für dieses enorme Durchsetzungsvermögen sind". Andererseits müsse man mit ernsten Folgen für die angestammte Tierwelt rechnen. Martens: "Die Effekte für unsere heimische Weberknecht-Fauna werden eher schädlich, wenn nicht sogar katastrophal sein."

Im Moment herrscht aber noch Ruhe vor dem neuerlichen Sturm. Die Horden aus dem Vorjahr haben den Winter nicht überlebt. Ihr Nachwuchs, der gerade heranwächst, wird sich voraussichtlich erst wieder im Juli zu schwarzen Knäueln zusammenrotten. Dann will sich auch Karola Winzer zur Essener Isenburg aufmachen: "Die Chancen, diese Tiere zu sehen, dürften ab diesem Zeitpunkt recht gut stehen."


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