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Die Kinder mit den Superaugen

Archivmeldung vom 07.03.2005

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 07.03.2005 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Die Kinder des thailändischen Seenomadenvolkes Moken haben eine Gabe: Sie können unter Wasser scharf sehen. Selbst mit Schwimmbrille nehmen die meisten Menschen die geheimnisvolle Welt unter dem Meeresspiegel nur verschwommen wahr. Eine Schwedin hat versucht, das Rätsel der Kinder mit den Zauberaugen zu lösen

Nachfolgend lesen Sie Auszüge eines Artikels, der auf den Seiten von Spiegelonline zu sehen ist. Wenn Sie am Schluß des Artikels, die Quellangabe anklicken gelangen Sie zu dem vollständigen Artikel, der ansonsten noch über das Leben der „Moken“ berichtet.

 

Vor einigen Jahren schwamm eine schwedische Wissenschaftlerin mit ihnen um die Korallen. Wo, wenn nicht bei diesen zweibeinigen Amphibien, ließe sich besser klären, was die Forscherin umtrieb: die Physiologie der Tauchreflexe, jene Regungen des Körpers, die im Wasser das Herz langsamer schlagen lassen, die Atmung verzögern, die zusätzliches Blut in die wichtigsten Organe schießen, um ihnen mehr Sauerstoff zu geben. Die Kinder hatten ihren Spaß; immer wieder stießen sie hinab, zielgenau, brachten Kiesel vom Grund. Sie wollte nicht undankbar sein und verstaute den Ballast. Erst an Land merkte sie, was die Steinchen wirklich waren: winzige Muscheln, Schnecken in den Farben des Meeresbodens. Wie nur konnten die Kinder mit bloßem Blick entdecken, was sich ihr selbst mit Schwimmbrille nur als fahles Einerlei offenbarte? Anna Gislén hatte das Thema ihrer Doktorarbeit...

 

...Mag sein, dass uns die Evolution landwärts gestoßen hat. Wir mögen Fische gewesen sein, vor Äonen, schon deshalb ist der Blick zurück eher verschwommen. Doch auch buchstäblich: Unser, das menschliche Auge, ist nur der Luft gefügig. Unter Wasser verlieren Hornhaut und Glaskörper ihre lichtbrechende Kraft, allein die Linse muss für Klarheit sorgen. Doch was sie gen Netzhaut schafft, reicht nicht weit, unter Wasser verliert der Mensch zwei Drittel seiner Sehfähigkeit. Da wird wenig scharf, klitzekleine Muscheln schon gar nicht. Zuerst wollte Gislén herausfinden, wie gut die Kinder tatsächlich unter Wasser sahen. Eine Vergleichsgruppe mit den Kindern europäischer Touristen sollte den Unterschied zeigen. "Wir fanden sie an den Urlauberstränden naher Inseln", sagt Anna Gislén, Schamröte färbt die Wangen. Was ist los, Anna? "Nun, man gerät in der Gegend leicht unter Verdacht. Wir auch." Sie knetet die Hände. "Ich meine, wir waren dort unten nicht die Einzigen, die nach Kindern suchten." Es half, dass sie ihre Tochter dabei hatte. Am Ende folgten ihr 6 junge Moken und 28 Urlauberkinder ins Wasser. Die Sehschärfe misst man mittels Scheiben, denen entweder Quer- oder Längsstreifen aufgedruckt sind. Ein Gestell fixierte den Kopf knapp unter der Wasseroberfläche auf 50 Zentimeter Abstand. Jede Scheibe zeigte dünnere, enger aneinander liegende Linien. Die Kinder sollten bestimmen, welche Richtung sie hatten, vertikal oder horizontal. "Machten sie zu viele Fehler, war klar, dass sie nichts mehr sahen." Die Mokenkinder erkannten noch einen Millimeter dünne Streifen. Oder anders: Sie sehen fast drei Mal so gut.

Anna Gislén saß am Strand der Moken und dachte nach, bald ging ihr Flug. Sterne fielen, Fische sprangen. Jene besitzen extrem runde Linsen, die mangelnde Brecheigenschaften kompensieren. Auch eine flachere Hornhaut ist in dieser Hinsicht nützlich, bei Wasservögeln etwa. Robben gar haben hinter der Cornea eine feine Luftschicht, gleich einer natürlichen Taucherbrille; ihnen ist das Wasser Luft, optisch betrachtet. Die Muskeln an der Linse sind zudem stark ausgebildet, was erhebliche Verformungen möglich macht. Seekühen geht es ähnlich.

Nein, nein, Anna schüttelt den Kopf. "Ihre Augen", sagt sie, "sind die eines jeden Menschen auf dieser Welt, wir haben das untersucht." Tatsächlich wuchtete sie einen Großteil ihres Labors nach Thailand, darunter ein Ophthalmometer, jenes Getüm, in das der Optiker seinen Kunden bittet. Auch das schwer wiegende Vokabular ihres Fachgebiets trug sie an den fernen Strand, sie folgte Krümmungsradien, schlängelte durch Sinuskurven, schnitt die Blicke in Raumfrequenzen. Danach war sie ratlos.

 

Eine veränderte Hornhaut? Ausgeschlossen, sagt Anna Gislén. Eine helfende Schicht mittendrin, wenigstens eine besondere Linse, besonders stark, die Brechkraft zu erhöhen? "Nichts", sagt sie, "nicht mal kurzsichtig sind sie." Das wäre eine Erklärung gewesen. Das Auge, ins Nasse gebadet, stellt auf einen imaginären Horizont, man ist weitsichtig. Liegt das Bild an der Luft auf der Netzhaut, verschiebt es sich jetzt sogar deutlich dahinter, es wird unscharf. Bei Kurzsichtigen weniger, da bleibt es näher dran. Betrüge der Sehfehler 40 Dioptrien, nur mal angenommen, jener Mensch hätte Fischaugen. An Land allerdings wäre er blind...

 

... Die Messungen begannen an Land. Unter der Sonne Thailands war kein Unterschied auszumachen: 2,3 Millimeter im Durchschnitt betrug die Pupillengröße beider Gruppen. Die Sache änderte sich dramatisch unter Wasser.

"Sehen Sie", sagt Anna Gislén, "im Wasser ist das Licht gedämpfter. Die Pupillen vergrößern sich automatisch, die Linse wird ovaler statt runder. Das passierte auch bei den europäischen Kindern, das passiert bei jedem, natürlich." Am weitesten riss die Fachwelt die Augen auf, als sie Gisléns Werte vernahm. Anna wartet, beugt sich vor, gleich kommt die unerhörte Kunde. Sie lächelt, lehnt sich zurück. "1,96 Millimeter", sagt sie, "so ein kleiner Pupillenwert ist bislang für unmöglich gehalten worden."

Kugelt sich die Linse, verengt sich die Pupille, sie stellt auf Nahsicht ein. Der Optiker nennt das akkommodieren. Der Nutzen ist leicht verständlich: Wie bei einer Kamera, deren Blendenwert klein gestellt ist, erhöhen sich Tiefenschärfe und Auflösung. Bei den Mokenkindern in unerhörter Weise: Es ist, auf die Akustik übertragen, als würden sie neben donnernden Zügen stehen und noch die feinsten Töne der Bahnhofsmusik vernehmen. Mehr als das: Sie wüssten zudem das Instrument.

Die Frage war nun erst recht: Warum schaffen die Moken, was dem Rest der Welt versagt bleibt? Hat die Evolution, buchstäblich, ein besonderes Auge auf sie geworfen? Oder ist es gerade umgekehrt: Haben die Moken die Evolution ausgetrickst? Sie wären nicht die Ersten. Die Anpassungsfähigkeit an bestimmte Umwelteinflüsse verblüfft die Wissenschaft immer wieder. Lange etwa nahm sie an, dass das erwachsene Gehirn keine Nervenzellen mehr sprießen lässt.

Bis sie Londoner Taxifahrern unter die Mütze schaute. Auf deren Hippokampus, dorthin, wo ihr Gedächtnis für die urbanen Pfade liegt, worauf, sozusagen, ihre geistige Stadtkarte gedruckt ist. Unfassbares geschieht den Chauffeuren mit steigender Ortskenntnis: Ihr Gehirn wächst. Auch das musikalische Hirn eines Musikers gedeiht mit seiner Kunstfertigkeit. Allerdings nur jener Teil, der seinem Instrument bestimmt ist - einem Geiger ein anderer als einem Trompeter.

"Weißt du", spricht Salama, "weißt du, es ist ganz einfach." Einst war ein Mädchen, gepeinigt von ihren Eltern, den älteren Brüdern und Schwestern. Sie ging ins Wasser und wurde eine Seekuh. Seekühe haben Haare, sie weinen, Tränen fallen aus ihren Augen. Sie säugen ihre Jungen, es sind menschliche Wesen. "Wir sind die Kinder dieser verstoßenen Tochter."

Mag sein, sagt Anna Gislén, mag sein, sie blickt durchaus ernst. Es ist noch nicht erforscht. Natürlich könnte alles genetische Ursachen haben, selbst derart abwegige. Das Leben schießt bekanntlich Purzelbäume. So gesehen hätte Ingen gerade einen überzeugenden Beweis geliefert.

Die Neunjährige tollt durch das Schwimmbecken, schlägt Wasserrollen, stößt sich vom Grund, überschlägt sich wieder. Als sei alles nur ein Spiel. Dabei, das hat sie vorhin noch mal klargestellt, ist sie eine wissenschaftliche Person und als solche ernst zu nehmen. Denn außer Purzelbäumen kann sie etwas, was ihr so leicht keiner nachmacht. In Lund schon gar nicht. "Ich kann", sagt die kleine Schwedin, "meine Pupillen so winzig machen, da passt keine Stecknadel durch."

Es hat ein wenig gedauert, genau 33 Trainingstage. So lange brauchte Anna Gislén, bis ihre Testgruppe schwedischer Kinder die gleichen Fähigkeiten aufwies wie die Moken. "Plötzlich", sagt Ingen, "wurde alles ganz klar, einfach so, ich habe gar nichts gemacht." Nur langweilig sei es gewesen, meistens, man durfte ja nicht nach Muscheln Ausschau halten. Stattdessen mussten sie, in der Kopfstütze verankert, andauernd die "öden Scheiben" angucken, lang- und quergestrichelt, immer feiner, bis nichts mehr zu erkennen war. Wenigstens gab's Eis hinterher.

"Alle Kinder", schreibt Anna Gislén in ihrer Studie, "haben ihre Sehschärfe unter Wasser signifikant erhöht." Sogar noch, nachdem das Training längst eingestellt war. "Spätere Messungen brachten noch bessere Werte." Nicht die Gene sind es offenbar, welche die Scharfsichtigkeit in sich tragen. Bestenfalls ist es die Fähigkeit, die Anlage dazu. Sie muss nur entwickelt werden, etwa so wie das Sprechen. Niemand auch steht vom ersten Tag an auf beiden Beinen.

Vielleicht ist dieserart sogar matten Augen auf die Füße zu helfen. "Wissen wir, wie man die Sehschärfe trainiert", sagt Ronald Kroger, Gisléns Doktorvater an der Universität von Lund, "können wir gezielt Methoden gegen Sehfehler entwickeln." Tauchschein statt Brille, möglicherweise.

Bis dahin liegen noch einige Probleme im Trüben, das Phänomen hat sich noch nicht völlig entschlüsselt. Was hinter der Pupille vor sich geht, zum Beispiel, muss geklärt werden. Denn die Zusammenarbeit von Pupille und Akkommodation, also wenn die Linse sich zwecks Nahsicht kugelt, ist zwar anzunehmen. So funktioniert es ja immer. Doch die Wissenschaft glaubt nichts, was sie nicht vermessen hat. "Immerhin", sagt Anna Gislén, "ist auch eine Art antrainierter Tauchreflex denkbar, der die Pupille unabhängig von der Linse schließt." Auf letztere also wird sie der Testgruppe als nächstes schauen, damit auch das klar wird.

Die Männer schütten Glut in den Einbaum, schaben Verkohltes heraus, Regen schlägt den Strand. Sie brechen Planken aus den Wracks, versteckt im Dschungel liegen frisch geschlagene Stämme für neue Boote. Wenn die Touristen weg sind, soll alles bereit sein, sie sind schon von drei Stränden verjagt worden. Die Saison ist bald vorbei. Anna will sich irgendwann ein Segelschiff kaufen. Die Andamanensee durchpflügen, mit ihrer Tochter, dem wissenschaftlichen Fortschritt hinterher. Es gibt ja noch die echten Seenomaden, jene, die wirklich kein Ufer kennen. Die noch stundenlang jeden erreichbaren Grund absuchen, die unter Tage arbeiten, sagt sie. "Vielleicht haben sie ja noch viel kleinere Pupillen." Ihre Augen leuchten.

Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Gesellschaft und Politik. Der britische Fotograf Andrew Testa, geboren 1965, lebt in New York. Beide erlebten eine Recherche, die sie atemlos machte: nicht nur wegen der Pracht der Korallenriffe, auch wegen der fünf Meter Tiefe, in der sie manchmal zu arbeiten hatten. Am aufregendsten aber war der Hai, den sie zum Glück nur vom sicheren Ufer aus sahen.

Quelle des Artikels: Spiegel Online

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