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Schmiergeld-Prozess: Jetzt packt Reinhard S. im Siemens-Skandal aus

Archivmeldung vom 26.05.2008

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 26.05.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Oliver Randak

Als sie kamen ihn zu holen, war Reinhard S. bereit. Er hatte vorgesorgt, wie ein Eichhörnchen vor dem Winter Vorräte angelegt – nur hatte er keine Nüsse und Bucheckern gesammelt, sondern Akten und Belege akribisch gehortet. Als am 15. November 2006 mehrere Hundert Ermittler in Deutschland und Österreich ausschwärmten und die heile Siemens-Welt auf den Kopf stellten, nahmen sie auch S. mit und dessen Unterlagen. Für ihn war die Festnahme nicht überraschend: S. war zuvor schon in der Schweiz und in Liechtenstein wegen des Verdachts der Geldwäsche aktenkundig geworden.

Vor dem Oberlandesgericht München beginnt nun der Prozess gegen den langjährigen Siemens-Direktor Reinhard S. Der ehemalige kaufmännische Leiter der Telekommunikationssparte ist wegen Untreue in 58 Fällen angeklagt. Was das Verfahren so brisant macht: S. könnte Kronzeuge der Anklage im größten Schmiergeldskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte werden. Vor den Aussagen des Endfünfzigers dürfte so manche Siemens-Größe zittern, der bislang lediglich ein Bußgeld droht. Der Prozess gegen S. ist das erste Strafverfahren im Siemens-Korruptionsskandal.

Der Bayer S., der bei seiner Frühverrentung 2004 auf 38 Berufsjahre in den Münchener Konzern zurückschauen konnte, erwies sich – die Tage und Nächte in Untersuchungshaft trugen wohl ihren Teil dazu bei – als äußerst redselig. Bei den Verhören in einer Dienststelle des bayerischen Landeskriminalamtes in der Münchner Orleansstraße, die zwei Wochen und zwei Tage dauerten, packte er aus und zeichnete das Bild eines ausgeklügelten Systems aus Scheinfirmen und Strohmännern auf, das von den British Virgin Islands bis nach Dubai reichte. S. wusste, wovon er sprach: Schließlich soll er, das wirft ihm die Staatsanwaltschaft jedenfalls vor, der kreative Kassenwart in Sachen Korruption gewesen sein.

53 Millionen Euro veruntreut – ein Tropfen auf dem heißen Stein

S. wird in der 33 Seiten langen Anklage beschuldigt, in den Jahren 2001 bis 2004 insgesamt 53.299.253 Euro veruntreut zu haben. Ein Tropfen auf dem heißen Stein, wenn man bedenkt, dass im Siemens-Korruptionsskandal von 2000 bis 2006 mindestens 1,3 Milliarden Euro in dubiosen Kanälen, das meiste vermutlich als Schmiergelder ins Ausland, versickerten. Die Münchner Staatsanwaltschaft führt im Fall Siemens inzwischen 270 Personen als Beschuldigte.

Und dabei ist S. nun keineswegs die größte Nummer. Der Skandal erreichte längst Vorstandsebenen. Dennoch ist der Fall des Kassenwarts richtungweisend. Es schien über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte im ganzen Konzern so zuzugehen wie in der Telekommunikationssparte Com. Jedenfalls fanden die von Siemens beauftragten Korruptionsspezialisten der amerikanischen Anwaltskanzlei Debevoise & Plimpton, die bei ihren mehrere Monate langen Nachforschungen im Konzern keinen Stein auf dem anderen ließen, "in nahezu allen untersuchten Geschäftsbereichen und in zahlreichen Ländern Belege für Fehlverhalten im Hinblick auf in- und ausländische Anti-Korruptionsvorschriften", wie es in einem Bericht heißt.

Die Biografien der Anti-Helden in der Siemens-Affäre ähneln einander stark. Bei vielen arbeitete schon der Vater in dem Konzern. Sie heuerten nach der Schule oder dem Studium bei Siemens an, kletterten im Laufe der Jahrzehnte die Karriereleiter immer weiter nach oben und wurden richtig wichtig, wenn der Vorgänger in Rente ging. Verlässlichkeit war auch auf der dunklen Seite im Traditionsunternehmen oberstes Gebot.

S., geboren in Erding bei München, fing gleich nach der Schule bei Siemens an. Das war 1966. S. war keiner von den Studierten, den "Herren Ingenieuren", die bei Siemens herrschten. Er machte als Kaufmann Karriere. Bis zum kaufmännischen Leiter der Telekom-Sparte brachte er es. Bei seinem Ausscheiden 2004 war S. Prokurist. Er konnte Zahlungen in unbegrenzter Höhe freigeben.

Das tat er auch fleißig. Die Telekom-Sparte ist mit dubiosen Zahlungen von 449 Millionen Euro so korruptionsverseucht wie keine andere Abteilung in Deutschlands größtem Industriekonzern. S. wird dabei ein Vermögensschaden in Höhe von annähernd 50 Millionen Euro zur Last gelegt.

Die Telekom-Sparte bei Siemens ist von Korruption verseucht

Bei Siemens ging es auch beim schmutzigen Geld sehr ordentlich zu – um nicht zu sagen: pedantisch. Wer "nützliche Aufwendungen" oder "Provisionszahlungen", Tarnbegriffe für Korruptionszahlungen, zur Erlangung eines Auftrags brauchte, wer "Consultants" oder "Promotoren" füttern wollte, wie das konzernintern hieß, füllte eben ein "Grundsatzpapier Provision für Kundenaufträge" aus. Darin stand: das Auftragsland, das Projekt, der Projektwert, der Provisionsbetrag und der Zahlungszeitraum. Freigegeben wurde das Geld durch eine genehmigte Zahlungsanforderung. Das ist heute eine Arbeitserleichterung für die Strafverfolger.

Bei Siemens herrschte das strikte Vier-Augen-Prinzip: Sowohl der technische als auch der kaufmännische Regionalleiter unterzeichneten. Oft wurde aber nicht auf dem Papier unterschrieben, sondern lediglich auf einem gelben Post-it-Zettelchen. Die konnten bei einer Überprüfung schnell entfernt werden.

Wie floss das Geld? Die Überbringer, Mitarbeiter von S., holten entweder die Schmiergeld-Millionen bar an der Siemens-Kasse in der Hofmannstraße in Münchens Süden ab oder sie ließen sich vom zentralen Rechnungswesen Schecks ausstellen. Die Schecks wurden dann wiederum wahlweise bei Münchner Filialen der Deutschen Bank oder der Dresdner Bank eingelöst, das Geld in den Koffer gepackt, dann ein paar Straßenzüge weiter bei der DG-Bank oder Hypo Bank eingezahlt und auf Konten der Raiffeisenbank in Innsbruck oder Salzburg überwiesen.

Siemens-Kuriere fuhren mit Geldscheinen im Kofferraum über die Grenze

Wenn es schnell gehen musste, packte auch einmal ein Kurier die Scheine in den Kofferraum, fuhr über die Grenze und zahlte es bei der Raiffeisenbank in Österreich ein. Von dort bahnten sich die Summen ihren Weg in die Welt.

Die Quittungen wanderten derweil erst in einen Stahlschrank im Büro der Geldboten, dann in einen Stahlschrank in einem Aktenkeller, schließlich in einen eigenen Kellerraum in einem Siemens-Gebäude. Nichts sollte verloren gehen. Den Schlüssel zur Kammer des Schreckens hatten nur die Boten und ihre Bosse.

Als 1999 Schmiergeldtransfers ins Ausland auch in Deutschland strafbar wurden, war der Weg über Österreich nicht mehr gangbar. Das System wurde jedoch nicht abgeschafft, es erfuhr durch S. eine gründliche Erneuerung. Rückhalt erhielt der Kassenwart 2003 bei einem Treffen mit vier weiteren Siemens-Managern im Gasthaus "Alter Wirt" in München-Forstenried. Er sei weiterhin der Kassenwart ihres Vertrauens, bei konzerninternen Überprüfungen drücke man ein Auge zu, sicherten ihm die Kollegen zu.

Wie Herr S. und sein weltumspannendes Netz aufflogen

S. knüpfte ein weltumspannendes Netz. Er vollendete ein System aus Scheinberaterverträgen, das nur dazu diente, Geldflüsse zu verschleiern. Darin tauchten dubiose Briefkastenfirmen in aller Welt auf, wenn es etwa galt, Aufträge in Osteuropa oder Afrika abzuwickeln. Siemens, eine Weltfirma.

Das System implodierte, als sich die Genfer Staatsanwaltschaft für Schwarzgelder des früheren nigerianischen Diktators Sani Abacha interessierte. Eine finanzielle Verbindung zwischen Abacha und Siemens flog auf. Dann bekam S. auch noch Ärger, als er in Liechtenstein einen Millionenbetrag bei einer Bank abhob und kurze Zeit später bei derselben Bank auf ein anderes Konto einzahlte. Die Staatsanwaltschaft Vaduz leitete unter anderem gegen S. ein Verfahren wegen Geldwäscheverdachts ein. Als die Liechtensteiner ihre Münchner Kollegen um Amtshilfe baten, hatte Deutschland seinen bislang größten Korruptionsskandal.

War der ganze Siemens-Konzern straff organisiert und kriminell wie eine Mafia? Der Staatsanwalt kommt zu einem anderen Schluss: S. sei sich bewusst gewesen, dass sein Verhalten und das seiner Mittäter von Siemens nicht toleriert, sondern lediglich von seinem direkten Vorgesetzten gedeckt wurde. Er habe in eigener Machtvollkommenheit gehandelt.

Anwalt von S. verdächtigt auch Ex-Siemens-Chef von Pierer

Uwe von Saalfeld, Rechtsanwalt von S., sagte zu WELT ONLINE, sein Mandant sei im System Siemens kein Einzelfall. "Korruption ist eine Siemens-Krankheit und keine auf Einzelfälle beschränkte Aktivität." Ob beim Verkauf von Lokomotiven, Medizintechnik oder Kraftwerken: Es seien eben Provisionen für den Erfolg der Aufträge bezahlt worden. Dieses System reiche bis vor 1990 zurück. Allein die Tatsache, dass mit so großen Summen jongliert wurde, lasse nur den Schluss zu, dass auch die Siemens-Spitze eingeweiht war. "Mir kann niemand erzählen, dass der Zentralvorstand nichts davon gewusst hat. Das gilt auch für Herrn von Pierer."

Der langjährige Siemens-Chef wird am 20. Juni im Prozess gegen Kassenwart S. in den Zeugenstand gerufen. Unter den 29 Zeugen findet sich der amtierende Finanzvorstand Joe Kaeser. Gegen Pierer hat die Staatsanwaltschaft München ein Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen Verletzung der Aufsichtspflicht eröffnet. Ihm droht eine Geldbuße von maximal einer Mio. Euro. Für Strafermittlungen gebe es jedoch "keine zureichenden Anhaltspunkte", hieß es. Bislang.

Saalfeld hofft, dass sich die Kooperationsbereitschaft seines Mandanten auszahlt. "Er hat sich strafbar gemacht und sieht das ein. Er hat jedoch auch geholfen, das ganze Korruptionsgeflecht aufzurollen. Ich hoffe also auf eine milde Strafe, die vielleicht zur Bewährung ausgesetzt wird." S. habe "auf Anweisung seiner Vorgesetzten und mit Billigung des Zentralvorstands" agiert. Auf Untreue stehen bis zu fünf Jahre Haft. Ein Urteil in der Strafsache gegen S. könnte Ende Juli fallen.

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