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Systematische Misshandlungen in Kurheimen für Kinder

Archivmeldung vom 03.12.2019

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 03.12.2019 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch André Ott
Viele der Kinder empfanden die "Kuren" als Qual. Bild: "obs/SWR - Das Erste"
Viele der Kinder empfanden die "Kuren" als Qual. Bild: "obs/SWR - Das Erste"

Mainz. Eine Untersuchung des ARD-Politikmagazins "Report Mainz" zeigt, dass viele Erwachsene noch heute unter Misshandlungen in Erholungskuren leiden, in die sie zwischen 1950 und 1990 geschickt wurden. Die Redaktion hat systematisch 1.000 Erfahrungsberichte ehemaliger Kurkinder ausgewertet.

Es ist die erste empirische Untersuchung zu den "Erholungskuren". Demnach bewerten 93 Prozent der ehemaligen Kurkinder ihre Kur negativ. Mehr als 60 Prozent von ihnen schreiben, noch heute unter den Erlebnissen zu leiden - in Form von Angst- und Essstörungen, Panikattacken und Depressionen.

"Psychoterror" und "Folter"

Zwischen 1950 und 1990 wurden hunderttausende Kinder zur Erholung in Kurzentren geschickt. Viele von ihnen wurden geschlagen und gequält: "Ein Aufenthalt in der Hölle, der mein ganzes Leben verändert hat", schreibt ein Betroffener. "Es waren ausnahmslos traumatisierende Erlebnisse, die mich noch heute belasten", "danach war alles anders", schreiben zwei weitere. Neun von zehn ehemaligen Kurkindern geben in ihren Erfahrungsberichten an, dass sie die Kur schon als Kind belastet habe. Viele hätten tagelang geweint, schwere Angst vor den Erzieherinnen gehabt und unter starkem Heimweh gelitten. Die Kur sei "Psychoterror" und "Folter" gewesen, "ein Aufenthalt in der Hölle", "ein dunkler Fleck in der Kindheit".

Kinder wurden systematisch schlecht behandelt

Niedersachsens Sozialministerin Reimann sagte "Report Mainz", die Ergebnisse der Auswertung seien "beeindruckend und tief erschütternd". Die Untersuchung lege nahe, dass Kinder in den Kuren systematisch schlecht behandelt worden seien. In einigen Fällen werde man von Misshandlungen sprechen müssen. Sie werde prüfen, wo die Politik Unterstützung und Hilfen geben könne. Wichtig sei, die Geschehnisse weiter aufzuarbeiten. Denn für die Politik seien die Berichte weitgehend neu. Viele ihrer Kollegen hätten nur die wenigen Informationen, die öffentlich bekannt seien. Deshalb habe Reimann das Thema vergangene Woche auf der Konferenz der Arbeits- und Sozialminister in Rostock angesprochen. "Wir haben verabredet, dass wir auch gemeinsam über das weitere Vorgehen sprechen", so die Ministerin.

Desaströse Zustände im "Waldhaus" Vor zwei Wochen war bekannt geworden, dass im "Waldhaus" im niedersächsischen Bad Salzdetfurth 1969 ein Kind von anderen Heimkindern totgeprügelt worden und zwei weitere sehr wahrscheinlich an ihrem Erbrochenen erstickt waren. Nach Recherchen von "Report Mainz" gab es in dem Heim zu wenig und zu schlecht ausgebildetes Personal, das zudem noch massiv unterbezahlt wurde. Im Interview mit "Report Mainz" gesteht die Diakonie in Niedersachsen Fehler ein. Ihre Vorgängerorganisation hatte das Heim betrieben. Die Zustände im "Waldhaus" seien desaströs gewesen, so Diakonie-Vorstandssprecher Hans-Joachim Lenke.

"Man hätte das Heim schließen müssen." Es sei tragisch, dass in so einer Situation Kinder zu Tode gekommen seien. Hintergrund der Recherche: Für die Untersuchung hat "Report Mainz" 1.000 Erfahrungsberichte (683 Frauen, 317 Männer) ehemaliger Kurkinder ausgewertet, die in Kurheime in ganz Deutschland geschickt worden waren. Im Durchschnitt waren sie zum Zeitpunkt ihrer Kur zwischen sechs und sieben Jahren alt. Grundlage der Untersuchung sind Zuschriften an die Redaktion sowie an eine Initiative von Betroffenen. Die Autoren haben die Berichte u.a. nach folgenden Kriterien ausgewertet: einer Gesamtbewertung des Kur-Aufenthaltes, ob es in den Heimen Bestrafungen gab und ob die Betroffenen psychische bzw. körperliche Kurz- und Langzeitfolgen schildern.

Die Auswertung der Erfahrungsberichte zeigt, dass Kinder bundesweit gequält und misshandelt wurden, in Heimen öffentlicher wie privater Träger, in den 50er aber auch noch in den 80er Jahren. In einem großen Teil der tausend Berichte ist die Rede von körperlichen und psychischen Strafen sowie von schlechtem Essen. Viele Kinder seien gezwungen worden, bis zum Erbrechen zu essen. Immer wieder heißt es, sie hätten sogar ihr Erbrochenes essen müssen. Allein in den Jahren 1965 und 1966 wurden nach Angaben der Bundesregierung mehr als 1,5 Millionen Kinder in "Erholungskuren" geschickt. Bundesweit gab es in den 1960er Jahren 839 Heime für solche Kuren. Die meisten lagen an der Nordsee, im Schwarzwald und im Allgäu. Träger der Heime waren Krankenkassen, Kommunen und freie Wohlfahrtsverbände wie Diakonie und Caritas. Die Mehrzahl der Heime war in Privatbesitz. Organisiert und finanziert wurden die Erholungskuren von den Krankenkassen, der Rentenversicherung, den Kommunen und den Sozialwerken von Bahn und Post. Nach Recherchen von "Report Mainz" wurden für die Kuren in den 60er Jahren 150 Millionen D-Mark pro Jahr ausgegeben.

Quelle: SWR - Das Erste (ots)

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