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Günter Grass: Wir brauchen ein neues 68

Archivmeldung vom 19.04.2007

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 19.04.2007 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Der Literaturnobelpreisträger Günter Grass spricht sich dafür aus, dass Bundespräsident Horst Köhler den früheren RAF-Terroristen Christian Klar zu einem Gespräch im Gefängnis besucht. Köhler muss über ein Gnadengesuch des Häftlings entscheiden.

"Der Bundespräsident ist ein mutiger Mann; er hat wiederholt unbequeme Entscheidungen vertreten", sagte Grass im Interview mit den Stuttgarter Nachrichten (Donnerstag): "Es steht mir nicht zu, ihm zu raten, aber er könnte Christian Klar besuchen und aus eigener Anschauung eine Entscheidung treffen, die dann allseits akzeptiert werden sollte."

Grass, der sich in den sechziger, achtziger und neunziger Jahren politisch für die SPD engagierte, mahnt eine Erneuerung der Demokratie an. Der Lobbyismus, nicht der Islam, sei der größte Feind der Demokratie; er entmachte die Parlamente. "Umso dringender brauchen wir ein neues Demokratieverständnis - ein neues 68, keinen Abklatsch von damals natürlich, sondern eine ganz andere Wortwahl, andere Zielsetzung. Mit dem Ziel, dass das Parlament wieder ein handlungsfähiges Instrument der Bürger wird." Der Schriftsteller warnte in diesem Zusammenhang, die 68er mit den RAF-Terroristen gleichzusetzen. "Diese Verbrecher waren eine verschwindende Minderheit. Der RAF-Terrorismus ist erst entstanden, als der Studentenprotest schon abgeklungen war." Die 68er hätten die Gesellschaft wohltuend verändert: "Unsere freie Lebensform verdanken wir unter anderem auch dieser Bewegung." Heute nennt es Grass gefährlich, "dass politisch vernünftige, notwendige und einsehbare Lösungen nicht mehr gelingen, weil unsere Parlamentarier nicht mehr frei in ihrem Entschluss sind. Die Lobbyisten werden immer stärker. Wir brauchen eine Bannmeile ums Parlament". So sei die Gesundheitsreform eine Missgeburt, die die Handschrift der Pharmaindustrie, der Ärzte- und Apothekerverbände trüge.

Grass, der im letzten Herbst harsche Kritik dafür einstecken musste, dass er erst in seiner 2006 erschienenen Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" über seine Zeit in der Waffen-SS geschrieben hat, äußerte sich auch zur umstrittenen Grabrede von Baden-Württembergs Ministerpräsident Oettinger auf den früheren Marinerichter Hans Filbinger: "Die Reaktion bestätigt meine These, dass es keinen Schlussstrich unter der deutschen Geschichte gibt und geben kann. Oettingers Rede war an die rechte Klientel und an die baden-württembergische CDU gerichtet, um sicher zu stellen, dass der Redner einer von ihnen ist: stockkonservativ." Oettinger habe die Wirkung falsch eingeschätzt und berufe sich darauf, dass Filbinger damals juristisch korrekt gehandelt habe. "Aber es ist ja eben diese grauenhafte Korrektheit, die nach wie vor in diesen Köpfen sitzt", so Grass: "Das führte damals zu Schnellgerichten. Filbinger hat das Todesurteil gegen einen Soldaten erlassen, als die deutschen Einheiten längst von britischen Truppen eingeschlossen waren. Also gab es überhaupt keinen Grund mehr, einem höheren Befehl zu folgen." Der 79-Jährige lobte Kanzlerin Merkel dafür, Oettinger öffentlich kritisiert und zur Entschuldigung gezwungen zu haben. Zu seinem langen literarischen Schweigen über seine SS-Zeit 1945 sagte Grass der Zeitung: "Darüber zu schreiben, habe ich mir aufgespart, bis ich eine literarische Form dafür gefunden habe: Ich musste ich mein Misstrauen gegenüber dem autobiografischen Schreiben überwinden. Autobiografisches darf nicht zulassen, dem Erinnern eine Tendenz zu geben, Schuld zu vereinfachen, zur Lügengeschichte verkommen zu lassen. Ich wollte den Jungen entdecken, der ich damals war - eine auf Anhieb fremde Person. Verführbar und verführt. Wider jede Vernunft. Das sollte geschrieben werden. Ich habe meine Lektion kapiert." Grass habe als Jugendlicher versagt, weil er damals "wichtige Fragen in den entscheidenden Situationen, wie ich sie überschauen konnte, nicht gestellt habe: Als mein Onkel erschossen wurde, als Lehrer von unserer Schule verschwanden, als ein Junge im Arbeitsdienst verschwand, weil er immer das Gewehr fallen ließ." Diese Versäumnisse werfe er sich vor. "Die kurze Phase bei der Waffen-SS ist hingegen etwas, wofür ich nichts konnte. Dennoch, durch das spätere Wissen über die SS-Verbrechen, das ich seinerzeit nicht hatte, hat sich bei mir Scham angereichert. Das hat offenbar dazu geführt, dass ich weitgehend darüber geschwiegen habe - aber wiederum nicht so geschwiegen, wie ich es selbst in Erinnerung habe." So gebe es Radiomitschnitte und Notizen Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre, in denen er von der Militärzeit und der SS erzählte. Seine Autobiografie habe die Zungen gelöst: "Ich habe noch nie so viele Leserbriefe bekommen von alten und jungen Menschen, die nun in ihren Familien über ihre NS-Zeit sprechen."

Quelle: Pressemitteilung Stuttgarter Nachrichten

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