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Mathematik der Schiebung

Archivmeldung vom 27.08.2008

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 27.08.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Oliver Randak

Den Betrügern auf der Spur: Zwei italienische Wissenschaftler haben ein Modell erfunden, um manipulierte Fußballspiele zu erkennen. Sie könnten damit bisher unbekannte Fälle in der Serie A aufdecken - womöglich sind es Hunderte.

Im Frühjahr 2006 folgten die beiden Arbeitsökonomen Tito Boeri und Battista Severgnini den Enthüllungen im italienischen Fußball genauso atemlos wie die meisten anderen Fans. Die Polizei hatte Telefone von Fußballmanagern, Verbandsfunktionären sowie Schiedsrichtern abgehört und war dabei auf ein riesiges Netzwerk der Korruption gestoßen. Einflussreiche Männer verschiedener Clubs hatten sich abgesprochen und reihenweise Schiedsrichter unter Druck gesetzt, um Spiele in der Erstliga-Saison 2004/05 zu beeinflussen. Rekordmeister Juventus Turin wurde nach den Ermittlungen der Titel aberkannt und in die zweite Liga zwangsversetzt. Andere Clubs wurden mit Punktabzug bestraft und reihenweise Offizielle aus ihren Ämtern entfernt.

Boeri, der einen Lehrstuhl an der renommierten Bocconi-Universität in Mailand hat, und Severgnini, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität in Berlin, beschäftigen sich vor allem mit Fragen von Arbeitsleistung und Produktivität. Und 2006 wollten sie eigentlich die von Fußballspielern ermitteln, weil sich ihrer Meinung nach das Spiel für solche Berechnungen besonders gut eignet. Doch unter dem Eindruck des "Calciopoli" genannten Skandals begannen sie sich eine andere Frage zu stellen: Kann man nicht vielleicht auch Spielmanipulationen rechnerisch ermitteln?

Also entwickelten sie ein hochkomplexes ökonometrisches Modell, das sich aus unterschiedlichen Elementen zusammensetzt. Einerseits stellten die beiden Ökonomen eine Art von Wahrscheinlichkeitsrechnung an, die der ähnelt, die Buchmachern zur Ermittlung von Wettquoten heranziehen. Zusätzlich wurde die Medienkonzentration im italienischen Fußball eingerechnet und das Auswahlverfahren, nach dem Schiedsrichter den Spielen zugewiesen wurden. Das mag sich seltsam anhören, hat aber mit verschiedenen Besonderheiten des italienischen Fußballs und des Skandals selbst zu tun.

Bei "Calciopoli" ging es nicht um bestochene Spieler, sondern um manipulierende Unparteiische. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, dass Journalisten als Handlanger der Clubs agierten. In populären Fernsehsendungen lobten sie gefällige Schiedsrichter oder kritisierten vehement jene, die nicht nach Wunsch pfiffen. Die bekamen dann weniger Spitzenspiele zugewiesen und wurden nicht für sportlich interessante sowie finanziell lukrative internationale Begegnungen nominiert.

Im Laufe der Arbeit bekamen Boeri und Severgnini die Gelegenheit, ihre Theorie mit der Wirklichkeit abzugleichen. Ihnen wurde die komplette Liste mit allen 78 Erstliga-Spielen zugespielt, die von der italienischen Polizei für manipuliert gehalten werden. Dabei zeigte sich, dass ihr Modell treffende Aussagen gemacht hatte. So deckt sich die errechnete Kurve, zu welchem Zeitpunkt der Saison am häufigsten manipuliert wird, mit der wirklichen Verteilung. Sie hatten als Höhepunkt den 19. Spieltag ausgemacht, und 2004/05, als die Saison 38 Spieltage hatte, wurden die meisten Partien um ihre Mitte verschoben. Also nicht zum Ende, wie man hätte vermuten können.

Nach mehr als zwei Jahren Arbeit ist Severgini inzwischen der Ansicht, dass ihr Modell ausgereift ist: "Wir gehen davon aus, dass wir damit weitere Spiele entdecken werden, die manipuliert waren." So werden sie am Mittwoch dieser Woche bei einer internationalen Fachkonferenz von Wirtschaftswissenschaftlern in Mailand ein Papier* vorstellen, in dem sie zwei Spiele benennen. "Wir hatten noch eine deutlich umfangreichere Liste, wollen in unseren Angaben aber konservativ bleiben", sagt Severgnini. Die rechnerische Überprüfung der letzten Jahre weist zwei Partien von Juventus Turin in der Saison 2003/04 als manipuliert aus: ein 1:0 gegen Perugia und einen 2:0-Sieg bei Modena. Vom Erfolg in Modena findet man noch heute ein Video auf YouTube, wo der Schiedsrichter in einer Fülle von strittigen Situationen für die Gäste aus Turin entscheidet.

Boeri und Severgnini dürfte mit ihrer Veröffentlichung vermutlich Ungemach ins Haus stehen. Der ehemalige Manager von Juventus Turin, Luciano Moggi, der im Mittelpunkt von "Calciopoli" stand, hatte die beiden Wissenschaftler bereits attackiert, als sie Ende 2006 mit ihren Überlegungen erstmals in die Öffentlichkeit gingen. Er drohte damals mit einer Klage, die allerdings nie eingereicht wurde. Außerdem lancierte Moggi, die beiden Wissenschaftler seien voreingenommen, weil sie Freunde des Präsidenten von Telecom Italia und zweiten Vorsitzenden von Inter Mailand, Marco Tronchetti Provera, seien. "Dabei haben wir den noch nie in unserm Leben gesehen", sagt Severgini. Er selber ist Fan des Drittligisten US Pergocrema, Boeri ist Anhänger des AC Mailand.

Ihre Berechnungen haben trotz aller italienischen Besonderheiten eine Bedeutung über den dortigen Fußball hinaus, denn sie haben herausgefunden, dass eher Spiele manipuliert werden, die sportlich ausgeglichen sind. Das erweist sich dann als Problem, wenn die Kräfte aus dem Gleichgewicht sind. "Unser Modell zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit von Korruption steigt, wenn nur wenige Clubs am Wettbewerb an der Spitze beteiligt sind", sagt Severgnini. In Italien ist das aufgrund von stark ungleich verteilten Fernsehgeldern so. Doch in anderen Ländern findet man das gleiche Phänomen: In immer mehr europäischen Ligen bildet ein mehr oder minder geschlossener Kreis von Clubs die Spitzengruppe.

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