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Leben unter Generalverdacht

Archivmeldung vom 23.07.2008

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 23.07.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Oliver Randak

Kennen Sie sich mit Sprengstoff aus? Waren Sie schon mal in Afghanistan? Solche Fragen müssen Ausländer in Nordrhein-Westfalen beantworten, wenn sie eine Aufenthaltserlaubnis wollen. Dagegen klagt ein Student aus Marokko.

Mourad Qortas hatte sich nicht viel dabei gedacht, als er im März zur Ausländerbehörde in Münster ging, um seine Aufenthaltserlaubnis um ein Jahr zu verlängern. Seit zehn Jahren wohnt der Marokkaner in Deutschland, studiert an der Uni Münster Islamwissenschaften und lebt ein normales Studentenleben. Münster ist seine zweite Heimatstadt geworden, eine schöne kleine Idylle, wie er sagt. Mit seiner Aufenthaltserlaubnis hatte es nie Probleme gegeben. Auch an diesem Tag in den Semesterferien nicht - bis man ihm sagte, er müsse noch einen Fragebogen ausfüllen.

"Alles lief gut, bis ich diese Fragen gelesen habe", sagt der 30-Jährige. Der Standard-Fragebogen, der SPIEGEL ONLINE vorliegt, ist umfangreich: Ob der Ausländer jemals gefälschte oder ungültige Papiere verwendet und wo er Militärdienst geleistet habe, will die Ausländerbehörde wissen. Ob er Mitglied in einer terroristischen Organisation sei. Ob er Kontakt zu Personen habe, die terroristischen Organisationen nahe stünden. Ob er eine Kampf- oder Flugausbildung gemacht habe, geschult sei im Gebrauch von Sprengstoffen und Chemikalien. Ob er in bestimmte Länder gereist sei, Mitglied in dieser und jener Organisation oder schon mal abgeschoben worden sei. Und schließlich auch, ob er Kontakt zu Polizei oder Verfassungschutz aufnehmen möchte. Diese Frage ist die einzige, deren Beantwortung freiwillig ist.

Qortas fühlte sich nicht mehr wie bei der Ausländerbehörde in Münster, die er immer nett und unkompliziert fand, sondern wie in einem polizeilichen Verhör: verängstigt und verdächtig. Er füllte den Fragebogen aus, gab ihn der Sachbearbeiterin und sagte: "Wenn ich ein Terrorist wäre, glauben Sie doch nicht ernsthaft, dass ich das auch angekreuzt hätte."

Uni stellt sich vor die ausländischen Studenten

Der Student hat nichts gegen Terrorismusbekämpfung. Im Gegenteil: Er befürwortet sie. Aber einen Fragebogen, der Ausländer aus muslimischen Ländern unter Generalverdacht stellt - das hält Mourad Qortas für das falsche Mittel.

Kopieren oder mitnehmen durfte er den Fragebogen nicht, der ist geheim. Das NRW-Innenministerium hat ihn nach eigenen Angaben im Herbst letzten Jahres eingeführt. Den Fragebogen müssen Staatsangehörige aus 26 meist islamischen Ländern beantworten, wenn sie eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen oder verlängern wollen. Diese Staaten sind:

Afghanistan, Ägypten, Algerien, Bahrein, Indonesien, Irak, Iran, Jemen, Jordanien, Katar, Kolumbien, Kuwait, Libanon, Libyen, Marokko, Nordkorea, Oman, Pakistan, Philippinen, Saudi-Arabien, Somalia, Sudan, Surinam, Syrien, Tunesien, Vereinigte Arabische Emirate

Hinzu kommen auch Staatenlose, Personen "mit Reisedokumenten der palästinensischen Autonomiebehörde" oder mit "ungeklärter Staatsangehörigkeit" sowie Menschen, gegen die bestimmte Verdachtsmomente vorliegen.

In der "Belehrung über die Rechtsfolgen" werden die Teilnehmer ausdrücklich darauf hingewiesen, dass falsche oder unvollständige Angaben zur Ausweisung führen können. In den Verfahrensregeln des Innenministeriums heißt es, der Fragebogen sei "in Anwesenheit mindestens einer bzw. eines Bediensteten der Ausländerbehörde auszufüllen". Falls nötig, sei ein Dolmetscher hinzu zu ziehen.

Können aufgrund der Antworten sicherheitsrelevante Bedenken nicht ausgeschlossen werden, werden die Daten laut Münsteraner Stadtrat an den Landesverfassungsschutz und das Landeskriminalamt weitergeleitet. Aber das hat Mourad Qortas im Nachhinein erfahren. Denn bekannt wurde die Fragebogen-Praxis erst dank ihm, der Uni Münster und des Ausländerbeirates der Stadt.

Den Stein ins Rollen brachte die Ausländische Studierendenvertretung (ASV) der Universität Münster. Mourad Qortas ist Vorstandsmitglied und hatte schon vor seiner eigenen Befragung bei der Ausländerbehörde von den Fragebögen gehört. Aber genau konnte er sich nicht vorstellen, was dahintersteckt. Als er im März selbst einen ausfüllen musste, setzte der ASV-Vorstand sich mit dem Ausländerbeirat der Stadt Münster in Verbindung und schrieb einen Brief an die Hochschulrektorin.

Ausnahme für "besonders vertrauenswürdige Personen"

Die Universität sah ihre ausländischen Studierenden diskriminiert und die Internationalisierung der Hochschullandschaft gefährdet. In einem einstimmigen Beschluss rief der Senat die nordrhein-westfälische Landesregierung und das Düsseldorfer Innenministerium dazu auf, die Sicherheitsbefragungen von ausländischen Wissenschaftlern und Studenten in Zukunft zu unterlassen und den Fragebogen zu veröffentlichen. Die Stadt Münster hat sich über den Städtetag ebenfalls für eine Abschaffung der Fragebögen eingesetzt.

Uni-Rektorin Ursula Nelles schrieb einen Brief an die Landesregierung. Innenminister Ingo Wolf (FDP) antwortete, ein Verzicht auf die Befragung komme "dann in Frage, wenn der Aufenthalt im öffentlichen Interesse liegt oder wenn die Person als besonders vertrauenswürdig einzustufen ist" - veröffentlichen könne man den Fragebogen aber nicht. Nelles fordert nun, alle Angehörigen der Universität und die, die es werden sollen, von den Tests auszunehmen.

Auch der Landtag hat sich schon damit befasst, denn Abgeordnete der Sozialdemokraten und der Grünen stellten kleine Anfragen zum "Gesinnungstest". Das Innenministerium weist diese Bezeichnung in ihren Antworten vom 7. Juli ebenso zurück wie den Vergleich mit der Rasterfahndung und nennt Beispiele für die Gefahrenlage durch "islamistisch motivierte Terroranschläge", darunter der knapp gescheiterte Anschlag der beiden Kofferbomber in zwei Regionalbahnen vom Juli 2006. Diesem Risiko sei durch "konsequente Anwendung der Vorschriften des Aufenthaltsrechts zu begegnen".

Die SPD-Abgeordneten Anna Boos und Svenja Schulze wollen in der Anfrage unter anderem wissen, warum der Fragebogen als geheim eingestuft ist und warum nur Ausländer aus bestimmten Ländern befragt werden. Eine allgemeine Bekanntgabe würde den Fragebogen als Instrument der Sicherheitsüberprüfung weitgehend entwerten, heißt es in der Antwort der Landesregierung. Und weiter: "Personen, die tatsächlich Grund zur Verschleierung bestimmter Sachverhalte haben, hätten so die Möglichkeit, im Vorfeld einen Abgleich mit ggf. bereits in der Vergangenheit erfolgten 'Legendenbildungen' vorzunehmen."

"Und wo ist deine Bombe?"

Die Auswahl der Länder, deren Staatsangehörige den Fragebogen ausfüllen müssen, begründet die Landesregierung mit einer EU-Liste der "konsultationspflichtigen Staaten". Zudem würden auch in einer Reihe anderer Bundesländer bereits "sicherheitsrechtliche Standardfragebögen eingesetzt; es müsse "auch verhindert werden, dass Nordrhein-Westfalen zum attraktiven Rückzugsraum für Personen wird, die eine solche Sicherheitsbefragung umgehen wollen".

Mourad Qortas kann die Argumentation der Landesregierung nicht nachvollziehen. Er hat vor dem Verwaltungsgericht Münster gegen die Fragebogen-Praxis geklagt, vor allem gegen die Übermittlung seiner Daten an die Sicherheitsbehörden und gegen die Speicherung. Seit dem 11. September 2001 hat sich viel verändert für ihn. Häufig werde er komisch angeguckt auf der Straße, erzählt Qortas. Von Kommilitonen müsse er sich Sprüche anhören, wo denn seine Bombe sei. Oft fühlt er sich unter Generalverdacht gestellt, ein Terrorist zu sein, weil er Muslim ist und aus Marokko kommt.

Dass Privatpersonen so etwas sagen, daran hat er sich gewöhnt. Aber dass jetzt auch der Staat ihn unter Generalverdacht stellt, hätte er nicht gedacht. "Ich habe Vertrauen in den deutschen Staat", sagt Mourad Qortas und klingt dabei überzeugt. Und weil er dieses Vertrauen hat, klagt er jetzt.

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