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Westdeutsche Zeitung: Holen wir diese Volkskrankheit aus der Tabuzone

Archivmeldung vom 13.11.2009

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 13.11.2009 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Robert Enkes Freitod hat uns wachgerüttelt. Plötzlich schreibt, denkt und redet die Republik über die Depression, holt diesen Dämon der Moderne für kurze Zeit aus seiner Tabuzone. Und plötzlich wird uns bewusst, dass sich jenseits der hysterischen Spaß- und Leistungsgesellschaft die dunklen Seiten des Lebens nicht weglachen lassen: Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Angst und Tod.

So wichtig die Debatte über Enkes Tod auch ist; wer sein Leiden als reines Fußball-Drama mystifiziert, verfehlt das Wesen dieser Erkrankung. Das Sport-Idol, zermalmt von der Last der Erwartungen - diese Erklärung greift zu kurz, will man verstehen, warum sich Depressionen als unaussprechlicher Schatten auf unser Zeitalter gelegt haben.

Unaussprechlich: Bei der Bahn redet man technokratisch von "Personenschäden", wenn sich Verzweifelte vor fahrende Züge werfen. Die Allgemeinheit sagt "Selbstmord", so als habe der Kranke, der keinen anderen Ausweg als den Tod mehr sah, ein schweres Verbrechen begangen. Und Betroffene schweigen so lange wie möglich über den Horror, der immer wieder Besitz von ihnen ergreift, weil sie fürchten, sie könnten zu Aussätzigen der Erfolgsgesellschaft werden. Doch so lange dieses Volksleiden ein Tabu bleibt, so lange wird es keine präzise Bestandsaufnahme geben. Eine solche böte aber erst einmal die Chance, diese Krankheit entschlossener als bisher zu bekämpfen. Es ist kein Wunder, dass sich Ärzte heute häufig an körperlichen Symptomen ihrer Patienten abarbeiten, ohne zu erkennen, dass Depressionen dahinterstecken.

Dass schwer Depressive mit Medikamenten ruhiggestellt und in psychiatrischen Einrichtungen ihrer Würde beraubt werden. Dass Menschen in den Tod fliehen, weil es niemanden gibt, der ihnen helfen kann.

Ein offener Umgang mit dem Tabuthema wäre ein Anfang. Zugleich sollten wir aber auch grundsätzlich danach fragen, warum sich Depressionen so sehr in unserer Gesellschaft festsetzen. Leistungsdruck, Versagensängste, Einsamkeit, Haltlosigkeit und Entfremdung - die Beschleunigungen der Moderne haben die Menschen aus ihren traditionellen Bezügen katapultiert und dabei viele Psychen beschädigt. Wir sollten uns damit nicht abfinden.

Quelle: Westdeutsche Zeitung

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