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Hirnforscher Prof. Dr. Dr. Gerald Hüther: "Die Scheu des Hirns vorm Nachdenken"

Archivmeldung vom 21.05.2016

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 21.05.2016 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Bild: pixelio.de/Dieter Schütz
Bild: pixelio.de/Dieter Schütz

Datenspeicher hier, GPS-Navi dort: Die digitale Technik macht unser Leben effizienter und bequemer. Das Gehirn schätzt die kleinen Helferlein, sagt der Göttinger Hirnforscher Prof. Dr. Dr. Gerald Hüther. "Das kommt seinem Bestreben entgegen, Energie zu sparen. Aber: Bereiche, die nicht regelmäßig genutzt werden, verkümmern. Richtig eingesetzt können digitale Medien uns aber ermöglichen, die Welt kreativ zu gestalten."

Bis zum Aufkommen bildgebender Verfahren bei der Messung von Hirnaktivität galt das Gehirn als Organ, das sich ab einem relativ frühen Punkt in der individuellen Entwicklung nicht mehr wandelt. Was denkt man heute über die Plastizität unseres Hirns?

Prof. Gerald Hüther: Man hat zwar schon in den 80er-Jahren geahnt, dass zeitlebens Vernetzungen im Gehirn umgebaut werden, konnte dies aber nur bei Tierversuchen belegen. Seitdem wir mit der Kernspintomographie funktionelle Aktivitätsmuster darstellen können, wird deutlich, dass es bis ins hohe Alter im Gehirn zu Umbauprozessen kommt. Wer beispielsweise spät das Jonglieren erlernt, hat nach einem halben Jahr im Hirn eine Vernetzung ausgebildet, die vorher nicht da war.

Unser Gehirn ist ein Energiefresser, der aber auch über einen Energiesparmodus verfügt. Welche Folgen für die Selbstorganisation unseres Denkorgans hat es, dass erstmals digitale Helferlein zur Verfügung stehen, die uns Denkprozesse abnehmen?

Prof. Hüther: Es ist offenbar ein grundsätzliches Organisationsprinzip lebender Systeme, ihre Beziehungen so zu ordnen, dass so wenig Energie wie möglich verbraucht wird. Das gilt gleichermaßen für Gemeinschaften wie für Organismen und Organe. Unser Gehirn verbraucht schon im Ruhezustand 20 Prozent der vom Körper bereitgestellten Energie. Der Wert schnellt nach oben, wenn etwas Neues erlernt wird. Mancher kann sich noch an die Erschöpfung nach den ersten Fahrstunden erinnern. Die damals notwendige Denk- und Konzentrationsleistung verbrauchte enorm viel Energie. Durch die Herausbildung von Automatismen wird dieser Aufwand verringert. So sind wir oft mit Autopilot unterwegs: beim Beurteilen anderer Menschen, beim Lesen der Zeitung, bei Alltagsaufgaben. Die Hürden sind hoch, damit das Gehirn den Energiesparmodus verlässt, der oft "innerer Schweinehund" genannt wird. Nachdenken ist nicht die Lieblingsbeschäftigung unseres Gehirns. Kein Wunder, dass Menschen technische Geräte erfinden mit dem Ziel, eigene Anstrengungen zu verringern. Dank der digitalen Medien sind wir nun in der Lage, uns Denk- und Erinnerungsleistungen zu erleichtern. So ersparen uns satellitengestützte Navigationssysteme das Lesen von Landkarten und die Orientierung im Raum. Das ist zwar alles erlernbar, aber das wird kaum noch einer machen, wenn ein Knopfdruck reicht, um es zu umgehen. Mit dem Ergebnis, dass die erforderlichen neuronalen Vernetzungen im Hirn nicht ausgebildet werden oder - so bereits verhanden - verkümmern. Früher konnten sich auch die meisten Menschen relativ mühelos um die zehn Telefonnummern merken. Das gelingt heute kaum noch jemandem, weil die persönlichen Telefonnummern irgendwo eingespeichert sind. Die Frage ist aber, wie weit man den digitalen Geräten sein Erinnerungsvermögen überlassen kann, ohne dabei seine Identität zu verlieren. Wer sich an seine eigenen Lebensereignisse nicht erinnern kann, ohne dazu auf einem Laptop nachgucken zu müssen, ist gefährdet.

Können Jugendliche ihre Potenziale noch voll ausschöpfen, die mehr mit virtuellen Online-Wesen kommunizieren als mit realen Menschen?

Prof. Hüther: Tatsächlich brauchten wir als soziale Wesen die anderen, sonst können wir uns nicht entwickeln. Fast alles, was wir als Erwachsene können, haben wir von anderen gelernt. Deshalb sind soziale Beziehungserfahrungen so entscheidend für die Ausbildung der entsprechenden neuronalen Verschaltungsmuster. Habe ich mit ganz einfach denkenden Menschen zu tun, etwa in einer Neonazi-Gruppe, entwickeln sich auch nur einfache Verschaltungsmuster in meinem Gehirn, mit denen ich versuchen muss, die Welt zu begreifen. Das mag energiesparend sein, kann aber dazu führen, dass man sich in dieser Welt nur noch mit Gewalt zurechtfindet. Komplexe Beziehungserfahrungen kann man aber nur in Begegnungen mit Menschen machen, die nicht alle gleich, sondern möglichst unterschiedlich sind. Dabei ist nicht Häufigkeit der Kontakte entscheidend, sondern Intensität des Austausches - und das geht über digitale Medien nicht.

Also ist die Kommunikation über sogenannte soziale Medien, in denen der Widerpart oft nur Objekt ist, keine vollwertige Kommunikation?

Prof. Hüther: Damit sich zwei Menschen als Subjekte begegnen können, reicht es nicht, dass sie Worte austauschen. Zu einer Begegnung gehört, dass man Gestik und Mimik sehen kann. Wer lediglich auf Worte reduziert kommuniziert, kann auch nur noch einfachere Beziehungen pflegen. Wir haben eine entsprechende Entwicklung derzeit in Japan. Dort wird mit großer Sorge verfolgt, dass viele junge Menschen nicht mehr in der Lage sind, realen Sex miteinander zu haben. Die kennen Sex nur als virtuelles Erlebnis der Selbstbefriedigung vor dem Bildschirm. Reale Partner, die Geruch aufweisen, die sich bewegen, die sich nicht abschalten lassen, sind diesen Menschen zu komplex. Ihnen fehlen die Vernetzungen, die sie nur ausgebildet hätten in der Erfahrung körperlicher Begegnungen mit einem Partner.

Um bei der Affektregulation in Japan zu bleiben: Vor einigen Jahren ging eine Meldung über den Ticker, nach der ein Paar sein eigenes Kind verhungern ließ, weil es lieber ein virtuelles großzog. Verlieren wir die Fähigkeiten zur Lösung zwischenmenschlicher Probleme?

Prof. Hüther: Diese Beispiele zeigen nicht, wo wir mal als Menschheit landen werden. Aber sie zeigen, was alles menschenmöglich ist. So sind in Korea junge Männer vor ihren Bildschirmen verdurstet, weil sie so in ihren Spielen gefangen waren, dass sie das Trinken vergaßen.

Wird eine Generation, die mit GPS-Handys und selbstfahrenden Autos groß wird, die Fähigkeit, sich zu orientieren, gar nicht erst entwickeln?

Prof. Hüther: Nur in dem Ausmaß, in dem sie es brauchen. Wozu sollen sie die Fähigkeit entwickeln, sich im Wald zu orientieren, wenn sie ohnehin nie im Wald sind? Also fehlen ihnen diese Strukturen, die ihnen die Fähigkeit erst verleihen würden.

Der Mensch hat etwa so viele Gene wie ein Fadenwurm. Man greift also zu kurz, wenn man die Komplexität unseres Denkens auf Gene zurückführen will. Fallen wir auf Fadenwurm-Niveau zurück, wenn wir uns lieber auf digitale Helfer verlassen, statt selbst mit Begeisterung zu denken?

Prof. Hüther: Tatsächlich ist fast alles, was wir können, nicht durch evolutionäre biologische Entwicklung zustande gekommen, sondern ist Kultur. So gut wie alles ist kulturell geformt und muss deshalb von menschlichen Gemeinschaften überliefert werden. Geschieht dies nicht, ist es weg. Je mehr Tätigkeiten wir uns von Robotern und Maschinen abnehmen lassen, desto weniger entwickelt unser Gehirn die dazu erforderlichen Nervenzellverschaltungen, die uns zu diesen Tätigkeiten befähigen. Um nicht in eine Generalkritik an den digitalen Medien zu fallen, gilt es zu fragen: Welche Chance bietet der Einsatz digitaler Medien? Bereits die Entwicklung von Maschinen, die uns kräftezehrende Arbeit abnahmen, war von Ängsten begleitet, erinnert man sich etwa an die Weberaufstände. Digitale Maschinen können uns nun geistige Arbeit abnehmen. Allerdings auch nur solche, die wenig anspruchsvoll ist, denn sie muss in Algorithmen verschlüsselbar sein. Also Routinearbeit, die nicht das berührt, was den Menschen eigentlich auszeichnet. Wir besitzen Kreativität und Intentionalität. Beides fehlt den Maschinen. Wir sind diejenigen, die etwas wollen können. Und wir sind diejenigen, die sich etwas ausdenken können, um unser Wollen umzusetzen. Wenn uns also die Maschinen die eintönige Arbeit abnehmen, werden wir auf das zurückgeworfen, was uns auszeichnet. Und so könnten wir endlich begreifen, was uns als Menschen eigentlich ausmacht. Und das ist nicht die Befähigung zum Schachweltmeister oder zum Gedächtnisakrobaten in TV-Shows, sondern das ist unsere Gabe, unsere geistigen Kräfte auf ein Ziel auszurichten. Dieses Alleinstellungsmerkmal des Menschen können wir nur im Zusammenspiel mit anderen entwickeln, also in Co-Kreativität.

Können die Individuen Co-Kreativität entwickeln, die sich an den Energiesparmodus vor dem Fernseher und dem Computer gewöhnt haben?

Prof. Hüther: Da das Gehirn zeitlebens formbar ist, kann man vieles reaktivieren, was anfangs verpasst wurde. Aber damit man es wollen kann, muss man es erst begreifen. Hier liegt der Schlüssel. Die digitalen Medien mit all den Defiziten, die sie auf den Ebenen der sozialen und individuellen Kompetenz produzieren, führen inzwischen automatisch dazu, dass wir uns fragen müssen, was uns als Menschen eigentlich ausmacht. Erst dieses Begreifen setzt uns in den Stand, es zu bewahren und an unsere Kinder weiterzugeben. Die Einführung der digitalen Medien zwingt uns also in einen Erkenntnisprozess, der dazu führen wird, dass auch unsere Bildungssysteme sich auf zwei Dinge fokussieren: Erstens den Kindern zu helfen, die Lust am Lernen, also die Intentionalität am Entdecken und Gestalten, niemals zu verlieren. Und zweitens, dass sie von Anfang an lernen, in co-kreativen Prozessen ihre Welt zu gestalten. Das ist ein wesentlich optimistischerer Ausblick als die Forderung, auf digitale Medien zu verzichten. Ein Verzicht würde uns ja dann auch die-sen Erkenntnisgewinn vorenthalten. Menschen, die bis zu diesem Punkt gekommen sind, wissen dann auch, wie sie digitale Medien einsetzen können, nämlich als Werkzeuge, um ihre Welt zu gestalten. Bisher werden diese Medien von Jugendlichen aber vornehmlich als Instrumente zur Affektregulierung eingesetzt. Weil ihnen langweilig ist, weil sie Frust haben, weil sie einsam sind, weil sie ihre sexuellen Bedürfnisse befriedigen wollen. Das Ergebnis dieser missbräuchlichen Nutzung dieser Medien ist, dass sie ihre eigenen Fähigkeiten zur Regulation ihrer Affekte nicht ausbilden können. In diesem naiven, unwissenden Umgang mit diesen Medien steckt die Gefahr. Wir Menschen sollten wissen, was wir da eigentlich tun.

Quelle: Das Interview führte Joachim Zießler - Landeszeitung Lüneburg (ots)

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