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Waldorfschulen: Lernen und Aufwachsen im Zeitalter der Digitalisierung

Archivmeldung vom 03.02.2021

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 03.02.2021 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch André Ott
Studie zu Bildungserfahrungen junger Waldorfschul-Absolventen erschienen (Archivbild) Bild: (C) Charlotte Fischer Fotograf: Charlotte Fischer
Studie zu Bildungserfahrungen junger Waldorfschul-Absolventen erschienen (Archivbild) Bild: (C) Charlotte Fischer Fotograf: Charlotte Fischer

Die Corona-Krise führt vor Augen, wie wichtig zwischenmenschliche Kontakte und Gemeinschaft sind - vor allem für Heranwachsende. Im Unterricht auf Distanz erfahren sie derzeit deutlich die Grenzen des digitalen Lernens und erleben, dass eine Bildungseinrichtung mehr ist als nur ein Ort der Wissensvermittlung und Vorbereitung auf den Eintritt in die berufliche Welt. Doch was genau soll Schule außerdem leisten?

Waldorfschulen haben darauf Antworten gefunden, die gesellschaftlich zwar immer wieder polarisieren, aber in Zeiten von Pandemie und Klimakrise auch sehr zeitgemäß erscheinen: Ein soziales Miteinander von Lernenden und Lehrenden steht hier im Mittelpunkt einer ganzheitlichen Pädagogik, die die Kinder mit ihren persönlichen Stärken wahrnimmt und neben intellektuellen auch kreative, künstlerische, praktische und soziale Fähigkeiten fördert. Eingebettet in eine starke Schulgemeinschaft werden so Bildung und Entwicklung der Persönlichkeit unterstützt: Jede und jeder soll sich als Gestalter des eigenen Lebens und der Gesellschaft verstehen - in Menschlichkeit sowie im wertschätzenden Umgang mit der Natur.

Wird die Waldorfschule diesem Anspruch gerecht? Passt ihre 1919 erstmals formulierte Pädagogik in unsere moderne Gesellschaft? Und: Welchen Herausforderungen muss sie sich heute stellen? Um das herauszufinden, hat ein Forscherteam der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn über 3.000 Absolventen der 254 deutschen Waldorfschulen befragt. Fast 2.000 von ihnen gehören zur Generation der "Millennials", deren Vertreter zwischen 1980 und 2002 geboren wurden und in einem überwiegend digitalisierten Umfeld aufgewachsen sind. Ihre Erfahrungen, Einschätzungen und Lebenswege fassen Dirk Randoll und Jürgen Peters in dem Band "Wir waren auf der Waldorfschule" zusammen, der jetzt bei Beltz Juventa erschienen ist.

Positive Erinnerungen an die Schulzeit

Das Wichtigste, was sie als Waldorfschüler gelernt oder erlebt hätten, sagen die in der Studie befragten Millennials, seien Freude am Lernen, ein breites Lernangebot, die Wertschätzung des Einzelnen sowie eine gute Atmosphäre und soziales Miteinander. "Insgesamt konnten wir feststellen, dass Waldorf-Absolventen sehr viel Gutes mit ihrer Schulzeit verbinden", so Randoll, Professor für empirische Sozialforschung an der Alanus Hochschule. "Das unterstreicht auch die Tatsache, dass laut Befragung neun von zehn Ehemaligen heute wieder auf eine Waldorfschule gehen würden", ergänzt Jürgen Peters, der an der Alanus Hochschule als Lehrkraft für besondere Aufgaben tätig ist. "Drei Viertel der Befragten mit Kindern schicken sogar ihren Nachwuchs auf eine Waldorfschule bzw. haben vor dies zu tun."

Eine Ursache dafür liegt offenbar in dem begründet, was Waldorfschulen in Deutschland von anderen Schulformen unterscheidet: Die Schüler werden hier von Beginn an bis zum Abschluss in Stufe 12 oder 13 durchgehend im selben Klassenverband unterrichtet. Die Wirkung dieses Konzeptes, das für 90 Prozent der Befragten von großer Bedeutung ist, ist in der Studie unter anderem in den Einschätzungen zum schulischen Einfluss auf das Sozialverhalten erkennbar: Über 85 Prozent führen ihre Fähigkeit, auf Schwächere Rücksicht zu nehmen und gemeinsam im Team etwas erarbeiten zu können, auf ihre Zeit an der Waldorfschule zurück.

Kreativität, Persönlichkeitsentwicklung und spät einsetzender Leistungsdruck

Zu den Beweggründen der eigenen Eltern für die Schulwahl befragt, nennen rund die Hälfte der Alumni pädagogische Motive: Vor allem der Unterricht in musisch-künstlerischen sowie handwerklich-praktischen Fächern, die ganzheitlich ausgerichtete Lernumgebung und die Förderung der Persönlichkeit hätten für die Waldorfschule gesprochen - Besonderheiten dieser Schulform, die auch die Ehemaligen in der Rückschau positiv hervorheben. So schätzen über 90 Prozent den handwerklichen und musisch-künstlerischen Unterricht als wichtig oder sehr wichtig ein. "Mehr als 95 Prozent", so Randoll, "geben in diesem Kontext an, dass die Schule die Entwicklung ihrer kreativen Fähigkeiten begünstigt habe."

Um festzustellen, ob Waldorfschulen darüber hinaus die Entwicklung der Persönlichkeit stärken können, stellen die Autoren zum Beispiel die Frage nach dem gesellschaftlichen Engagement der Ehemaligen. Der Studie zufolge sind sie überdurchschnittlich häufig ehrenamtlich oder politisch aktiv: Während sich in der Bevölkerung im Schnitt knapp 16 Prozent sozial engagieren, tun dies unter den Waldorfabsolventen mehr als doppelt so viele. Etwa ein Viertel der Befragten setzt sich nach eigenen Angaben zudem politisch ein. Auch die hohe Zustimmung zu positiven Effekten auf das Selbstvertrauen könne, wie Randoll verdeutlicht, im Sinne einer wirksamen Persönlichkeitsbildung verstanden werden. Ferner habe die Mehrheit der Befragten bestätigt, an der Waldorfschule einen achtsamen Umgang mit der Natur erlernt zu haben: "80 Prozent betonen, dass ihre Schulzeit Verbundenheit und Verantwortung für die Umwelt gefördert hat", präzisiert Peters. Unter anderem werde dies ermöglicht durch Erfahrungen in und mit der Natur, beispielsweise im Schulgarten oder im Rahmen des Landwirtschaftspraktikums.

Ein weiterer Faktor, der laut Studie in den Augen vieler Eltern für die Waldorfschule spricht, ist der geringe Leistungsdruck. Hier müsse differenziert werden, hebt Randoll hervor: "Während Kinder und Jugendliche bis Klasse 10 Zeit zum eigenen, entdeckenden Lernen haben und im Lernalltag möglichst viele Sinne angesprochen und gefördert werden, kommt mit dem Einsetzen der Oberstufe eine Lernkultur hinzu, die vom Lernen vorgegebener und reproduzierbarer Inhalte geprägt ist, um auf staatliche Abschlüsse vorzubereiten". Dem entsprechend äußern 80 Prozent der befragten Ehemaligen, dass sie frei von Leistungsdruck hätten lernen können, in der Oberstufe aber mit Anforderungen konfrontiert worden seien, auf die sie sich nicht ausreichend vorbereitet gefühlt hätten. In dieses Bild passt der hohe Anteil an Nachhilfe, die etwa die Hälfte der Schüler in Anspruch genommen hat. "Der Großteil davon in Mathematik und Fremdsprachen vor zentralen Abschlussprüfungen wie dem Abitur oder der Fachhochschulreife", präzisiert Randoll.

Lehrerbildung und digitale Medien als Herausforderung

Bei der Beurteilung der Lehrer zeigt die Studie erkennbare Unterschiede zwischen der Einschätzung menschlich-pädagogischer und fachlicher Fähigkeiten: "Für die meisten - rund 87 Prozent - ist das Schüler-Lehrer-Verhältnis von gegenseitiger Wertschätzung geprägt", berichtet Peters. Die fachliche Qualifikation der Lehrer, insbesondere in der Oberstufe, wird hingegen zurückhaltender bewertet. "Sie trifft für knapp 24 Prozent der Befragten voll und für knapp 61 Prozent eher zu", zitiert der Forscher aus der Studie. Speziell die Fachkompetenz in den Naturwissenschaften bei Oberstufenlehrern werde hier bemängelt.

Walter Riethmüller vom Bund der Freien Waldorfschulen kommentiert dies in einem abschließenden Kapitel zur Studie. Er sieht neben der Gewinnung kompetenter Fachlehrer für die Oberstufe auch in der Lehrerbildung eine "Daueraufgabe", an der kontinuierlich und mit hohem finanziellen Einsatz bereits seit 15 Jahren gearbeitet werde. "An dieser Stelle gibt die Studie wichtige Hinweise und neue Denkanstöße", erklärt Andreas Rebmann von der Software - AG Stiftung, die die Studie zusammen mit dem Bund der Freien Waldorfschulen finanziert hat. "Auf dieser Grundlage können wir im Rahmen unserer Förderung der akademischen Aus- und Weiterbildung von Waldorflehrern in Zukunft noch gezielter Impulse setzen".

Ein Punkt, den die Absolventen an mehreren Stellen in der Studie eher moderat beurteilen, ist der Umgang mit digitalen Medien. Für mehr als die Hälfte der Befragten hatte die Waldorfschule keinen oder einen eher ungünstigen Einfluss auf die Ausbildung dieser Fähigkeit. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass ein Drittel die Digitalisierung als eine wichtige Herausforderung für die Waldorfschulen betrachtet. Der Forderung, neue Medien und den reflektierten Umgang damit in den Lehrplan zu integrieren, sei man "allerdings schon vor einigen Jahren nachgekommen", unterstreicht Walter Riethmüller. Er stellt fest: "In der Zeit der Fragebogenerhebung waren aber offensichtlich die Folgen noch nicht dort angekommen, wo sie hingehören, nämlich in den Schulalltag." Die Frage nach der Art der Einbeziehung digitaler Medien und dem richtigen Zeitpunkt ihrer Anwendung, bekräftigt der Waldorfpädagoge, bleibe aber virulent.

Unter dem Strich veranschaulicht die Studie von Randoll und Peters, dass Waldorfschulen bei jungen Menschen Kreativität, eine hohe soziale Kompetenz und Teamgeist ausbilden und viele mit dem Wunsch entlassen, Verantwortung für Gesellschaft und Umwelt zu übernehmen. Dadurch stellt Waldorfschule einen Gegenentwurf zu einem ökonomisierten Bildungsverständnis dar, der in seiner Wirksamkeit von den Absolventen bestätigt wird. "Angesichts der Krisen unserer Zeit ist es nicht auszuschließen", so die Autoren, "dass dieser Entwurf für Bildungseinrichtungen in Gegenwart und Zukunft immer mehr an Bedeutung gewinnt."

Randoll, Dirk / Peters, Jürgen (Hg.): "Wir waren auf der Waldorfschule". Ehemalige als Experten in eigener Sache. Beltz Juventa. 143 Seiten, ISBN: 978-3-7799-6246-5

Quelle: Bund der Freien Waldorfschulen (ots)


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