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Statistikdebatte: Kinder- und Jugendarmut ist nach wie vor das drängendste Problem

Archivmeldung vom 13.05.2011

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 13.05.2011 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Manuel Schmidt
Bild: Barbara Eckholdt  / pixelio.de
Bild: Barbara Eckholdt / pixelio.de

Unterschiedliche Berechnungsmethoden erklären jüngste Ergebnisunterschiede Kinder und junge Erwachsene waren auch im Jahr 2009 die am stärksten von Armut betroffene Gruppe in Deutschland. Das zeigen neueste Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).

Das DIW Berlin weist Vorwürfe zurück, es habe Zahlen zur Armutsstatistik manipuliert oder zurückgehalten. „Diese Vorwürfe sind falsch“, sagt Gert G. Wagner, Vorsitzender des Vorstands. „Im Gegenteil haben wir aktiv thematisiert, dass wir unsere Berechnungsmethoden weiterentwickelt haben und dass sich dadurch auch die Armutszahlen verändert haben.“ Dies belegen unter anderem auch Zeitungsberichte und eine von der Bundesregierung beantwortete Große Anfrage (BT-Drucksache Nr. 17/4332).

„Dass der jüngste OECD-Bericht „Society at a Glance“ für 2009 auf Grundlage der von uns bereitgestellten Zahlen zu anderen Ergebnissen kommt und die Rentner als die größte arme Gruppe ausweist, liegt an den unterschiedlichen Berechnungsmethoden“, erläutert DIW-Forscher Markus Grabka. „Als nationales Institut passen wir unsere Berechnungen der deutschen Lebensrealität so genau wie möglich an. Die OECD hingegen muss international vergleichbare Zahlen errechnen. Sie kann sich deshalb nur auf in der Mehrheit der Länder gültige Fakten berufen und weniger Rücksicht auf landesspezifische Merkmale nehmen als wir.“ Die Methoden unterscheiden sich in drei relevanten Punkten (Armutsschwelle, Bestandteile des Einkommens und Bedarfsgewichtung, siehe unten).

Relevant für die Unterschiede bei den Daten ist insbesondere die Heranziehung unterschiedlicher Einkommensbestandteile. So berücksichtigt die OECD in ihrer Armutsstatistik unter anderem nicht, ob Menschen in den eigenen vier Wänden leben. „In Deutschland wohnen immerhin 52 Prozent aller Haushalte mit einem Haushaltsvorstand im Alter von über 65 Jahren im Eigenheim oder in ihrer Eigentumswohnung, mehr als 84 Prozent dieser Immobilien sind komplett entschuldet“, so Grabka. „Wenn man also berücksichtigt, ob jemand 500 Euro im Monat zur Verfügung hat und in einer abbezahlten eigenen Wohnung lebt oder mit gleichem Budget in einer Mietwohnung, dann ist das für die Frage arm oder reich in Deutschland ein entscheidender Faktor - auch wenn die OECD ihn in ihrem internationalen Vergleich nicht berücksichtigen kann.“

Armutsstatistik: International verbindlicher Standard fehlt Das DIW Berlin bezieht den Wert „selbstgenutzten Wohneigentums“ in das Einkommen ein. „Das ist auch der Standard im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung und wird auch von der Europäischen Union als Einkommenskomponente in einer Kommissionsverordnung gefordert“, sagt Grabka. Durch die Einbeziehung dieses Wertes - und aufgrund einer niedriger angesetzten Armutsschwelle - weisen dieselben Grunddaten andere Armutsergebnisse aus. „Derartige Verwirrung gibt es bei Vergleichen verschiedener Armutsanalysen und -berichte immer wieder, da sich noch kein international verbindlicher Standard für die Datenerhebung und -analyse durchgesetzt hat“, erklärt Grabka. Deswegen wurden zum Beispiel im letzten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2008) Armutsquoten von drei verschiedenen repräsentativen Datenquellen ausgewiesen.

In den neuesten Zahlen, die das DIW Berlin zur Armutsstatistik und den betroffenen Bevölkerungsgruppen hiermit vorlegt, sind Kinder und junge Erwachsene nach wie vor die am stärksten von Armut betroffene Gruppe: Im Jahr 2009 galten auf Basis der Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) am DIW Berlin bei einer Armutsschwelle von 60 Prozent des Medians der verfügbaren Haushaltseinkommen der Gesamtbevölkerung 16,4 Prozent aller Kinder und 24,4 Prozent aller jungen Erwachsenen in Deutschland als arm. Diese Ergebnisse bezüglich des Ausmaßes von Kinderarmut hat die Bundesregierung auch in der Antwort auf eine Große Anfrage ausdrücklich bestätigt. (Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Dr. Martina Bunge et al. „Gesundheitliche Ungleichheit im europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung“, Deutscher Bundestag, Drucksache 17/4332, 20.12.2010). „Bei den jungen Erwachsenen ist die Armut allerdings häufig eine vorübergehende. Mehr als 50 Prozent aller jungen Erwachsenen zwischen 18 und 26 Jahren befinden sich in Ausbildung und haben deswegen kein oder nur ein geringes Einkommen. Fast ein Viertel der jungen Erwachsenen ist deswegen einkommensarm. Pro Jahr beenden aber rund 25 Prozent ihre Ausbildung, rund 18 Prozent wechseln direkt in die Erwerbstätigkeit. Für sie sinkt das Armutsrisiko um mehr als die Hälfte: von rund 25 Prozent auf 10,5 Prozent. Sie sind dann nur noch unterdurchschnittlich oft von Armut betroffen“, erläutert Grabka.

Kinder leben den neuen DIW-Berechnungen zufolge mit 16,4 Prozent deutlich häufiger in Armut als die Gesamtheit aller Altersgruppen, für die der Durchschnitt bei 14,5 Prozent liegt. Menschen im Rentenalter hingegen waren demnach mit 14,0 Prozent nach wie vor unterdurchschnittlich stark betroffen, auch wenn die Deutlichkeit des Abstands nur noch schwach ausgeprägt ist. Den OECD-Berechnungen zufolge liegt die Quote der Kinderarmut in Deutschland hingegen mit 8,3 Prozent bereits unter dem allgemeinen Durchschnitt von 8,9 Prozent. Die der armen Rentner hingegen liegt aufgrund des nicht berücksichtigten Wertes des selbstgenutzten Wohneigentums mit 10,1 Prozent sogar leicht über dem Armutsmittelwert. Diese Ergebnisunterschiede erklären sich vorrangig aus dem nicht berücksichtigten Mietwert selbstgenutzten Wohneigentums.

„In unseren Langzeitbeobachtungen zeigt sich, dass die Altersarmut neben der Kinderarmut an Bedeutung gewinnt. Noch ist der Abstand zwischen diesen beiden Gruppen deutlich. In der Beobachtung der langen Zeitreihe zeigt sich jedoch, dass die über Jahre hinweg stark unterdurchschnittliche Altersarmut seit 2007 kontinuierlich anwächst und - sollte sich dieser Trend fortsetzen - in den kommenden Jahren statistisch gesehen den größeren Wert erreichen könnte“, so Grabka. Dabei wird vor allem die Entwicklung in Ostdeutschland eine Rolle spielen: Dort gehen jetzt zunehmend Menschen der Nachwendegeneration in Rente, die zuvor längere Zeit arbeitslos waren. Das führt zu niedrigen Altersrenten. Dies zeigen auch Simulationsrechnungen auf Basis der SOEP-Daten in Verbindung mit Daten der Deutschen Rentenversicherung (Künftige Altersrenten in Deutschland: relative Stabilität im Westen, starker Rückgang im Osten, von Johannes Geyer und Viktor Steiner, Wochenbericht des DIW Berlin, 11/2010).

Unterschiede bei den Berechnungsmethoden Die Berechnungsmethoden des DIW Berlin und der OECD in Bezug auf relative Einkommensarmut unterscheiden sich im Wesentlichen in Hinblick auf drei Punkte. Das DIW Berlin folgt damit den Konventionen, die auch dem Dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zugrunde liegen.

Armutsschwelle: Die OECD definiert einen Haushalt als arm, wenn dieser über weniger als 50 Prozent des Medians des verfügbaren Haushaltseinkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. Das DIW Berlin setzt hier einen höheren Schwellenwert von 60 Prozent an. Erst wer diese 60 Prozent überschreitet, gilt nicht mehr als arm.

Bestandteile des Einkommens (Einkommenskomponenten): Das DIW Berlin berücksichtigt explizit den Mietwert selbstgenutzten Wohneigentums, während die OECD dies nicht tut (bedingt durch das Fehlen entsprechender internationaler Vergleichsdaten).

Bedarfsgewichtung: Aus Gründen der Datenverfügbarkeit setzt die OECD die Quadratwurzel der Haushaltsgröße als Bedarfsgewicht an, während das DIW Berlin die sog. modifizierte OECD-Äquivalenzgewichtung verwendet. Mit der Bedarfsgewichtung berücksichtigt man Größenvorteile (economies of scale) von Haushalten mit mehreren Personen gegenüber einem Ein-Personen-Haushalt.

Quelle: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DIW Berlin

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