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Interview mit Dr. Isabelle Werenfels und Mareike Transfeld über die Wirkung sozialer Medien

Archivmeldung vom 16.12.2016

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 16.12.2016 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Facebook: unter der Lupe der Forscher. Bild: pixelio.de, Alexander Klaus
Facebook: unter der Lupe der Forscher. Bild: pixelio.de, Alexander Klaus

Seit Donald Trumps Sieg wird die zerstörerische Kraft der sozialen Medien für die Demokratie diskutiert. Vor fünf Jahren wurden Facebook und Twitter als Demokratisierungswerkzeuge im "Arabischen Frühling" noch bejubelt. Mareike Transfeld und Dr. Isabelle Werenfels von der Denkfabrik SWP erforschten Twitterdebatten in Arabien. Ihr Fazit: "Überhöht und verteufelt - beides richtig und falsch".

2011 heizten Wikileaks-Enthüllungen über die Korruption im Regime Ben Ali die revolutionäre Stimmung in Tunesien bis zum Überkochen an, im Arabischen Frühling wurden Twitter und Facebook als "Befreiungstechnologien" gefeiert. Heute sorgt man sich in Deutschland, dass Fake News und Bots wie in den USA den Wahlkampf beeinflussen könnten. Segen oder Fluch - was sind nun soziale Medien?

Dr. Isabelle Werenfels: Weder noch. Zunächst wurden die sozialen Medien hochgejubelt, ohne dass man ihre Rolle in den arabischen "Revolutionen" genau analysiert hatte. Kaum nahm man wahr, dass der Islamische Staat Twitter und Facebook zu Propaganda- und Rekrutierungszwecken nutzt, kippte die Bewertung ins andere Extrem.

Mareike Transfeld: Das Problem der "Fake News" ist nicht auf die USA oder Europa beschränkt. Das Problem gibt es im arabischen Raum spätestens seit dem Sturz der Despoten ebenfalls - und zum Teil mit dramatischeren Ausprägungen. Dr. Werenfels: Auch, weil das Korrektiv "traditioneller", freier Medien fehlt. Die klassischen Medien im arabischen Raum sind meist durch Staatsnähe geprägt.

Sie haben drei Twitter-Debatten im arabischen Raum erforscht. Welche waren das und wieso haben Sie sie ausgewählt?

Transfeld: Wir wollten thematisch und geografisch eine breite Palette gesellschaftlich relevanter Themen abdecken: So beleuchteten wir die Debatte im Maghreb-Raum über Anti-Fracking-Proteste in Südalgerien, die Twitter-Debatte über eine Massenvergewaltigung auf dem Tahrir-Platz im Sommer 2014 und die Debatte über Saudi-Arabiens Militärintervention im Jemen im Frühjahr 2015. Letztere Themen auch, weil die Saudis Twitter im arabischen Raum vor den Ägyptern am stärksten nutzen.

Dr. Werenfels: Ganz wichtig war, Debatten herauszugreifen, bei denen wir den ersten Tweet herausfiltern konnten. So konnten wir verfolgen, wie sich die Debatten inhaltlich und geografisch erweiterten.

Nehmen wir die Debatte um die Vergewaltigungen auf dem Tahrir-Platz. War das Internet in diesem Punkt ebenfalls ein Raum der Entfesselung, in dem Frauenfeindlichkeit ausgelebt wurde?

Transfeld: Sicherlich auch, aber nicht nur, das war das Besondere. Ein großer Teil der Tweets verurteilte die Vergewaltiger und nahm das Opfer in Schutz - formulierte sogar eine Scham für die Nation Ägypten. Es gab aber auch Tweets, die die Täter verteidigten, indem sie den Frauen unterstellten, unzüchtige Kleidung getragen zu haben. Oder solche, die auf frauenfeindliche Einstellungen anderer Männer Bezug nahmen.

Dr. Werenfels: In den Nachbarstaaten, wo die Debatte aufgegriffen wurde, überwog das Entsetzen und es wurden Solidaritätsnetzwerke geknüpft. Wobei die Notwendigkeit, Frauen vor solchen Übergriffen zu beschützen, in den eigenen nationalen Zusammenhang gestellt wurde. Transfeld: In welche Richtung die Debatte ging, zeigt sich daran, dass sich Präsident al-Sisi genötigt sah, das Opfer der Vergewaltigung im Krankenhaus zu besuchen. Zudem wurde als Konsequenz auch dieser Debatte das Sexualstrafrecht reformiert.

Hat Twitter hier den Spalt zwischen dem urbanen, modernen und dem ländlich-religiösen Ägypten überbrückt?

Transfeld: Nein, schon allein, weil die meisten Twitter-Nutzer in Kairo sitzen, gefolgt von Alexandria und den Auslands-Ägyptern.

Dr. Werenfels: Man darf auch nicht den Fehler begehen, die Twitter-Nutzer im arabischen Raum für repräsentativ zu halten. Tatsächlich reden wir hier primär von der Bildungselite, die aber auch anderen, wie Opfern von Vergewaltigungen eine Stimme verleiht. In Algerien zum Beispiel verleihen sie bisher "stummen" Minderheiten in der geographischen Peripherie eine Stimme, die auch international gehört wird. So finden Opfer eine Lobby, sie selbst beteiligen sich selten direkt an der Debatte.

Transfeld: Eine destruktive Wirkung der sozialen Medien konnten wir beobachten: Die Debatte über die Vergewaltigungen wurde derartig politisiert, dass es schließlich nur noch darum ging, entweder für al-Sisi oder für die Muslimbruderschaft Farbe zu bekennen. Der Spalt zwischen den eher liberalen Anhängern des Präsidenten und denen der konservativen Muslimbrüder hat sich noch vertieft. Frauenrechte spielten in der Debatte keine Rolle mehr.

Stichwort Anti-Fracking-Proteste in Südalgerien: War dies anderswo beispielgebend?

Dr. Werenfels: Es gab zwar Twitter-User, die dieses Thema in Ägypten und Tunesien lanciert haben, doch das fiel nicht auf fruchtbaren Boden. Und dies, weil es in Algerien nicht nur um die Umweltproblematik ging, sondern auch um die jahrzehntelange Benachteiligung von Bevölkerungsgruppen wie den Tuareg. Nicht zuletzt verhinderte die unsichtbare soziokulturelle Grenze zwischen dem Sahara-Algerien und dem Mittelmeer-Algerien, dass es zu größeren Protesten gegen das Fracking im Norden kam - abgesehen von den sozialen Medien. Nur ebenfalls marginalisierte Gruppen, wie die Mozabiten, die Arbeitslosenbewegung im Süden, solidarisierten sich.

Bezogen auf Saudi-Arabiens Militärintervention im Jemen: Orientierten sich die "virtuellen Stämme" der Diskutierenden entlang konfessioneller und ethnischer Zugehörigkeit?

Transfeld: Absolut. In der arabisch-sprachigen Debatte tweeteten hauptsächlich Bewohner der Golfstaaten, die ihre sunnitische Identität in den Mittelpunkt stellten. Der Feind wurde als schiitisch verstanden, die jemenitischen Huthis wurden dann mit den Iranern, Hisbollah und Bashar al-Assad in einen Topf geworfen. Schiiten, die sich diesem "virtuellen Stamm" entgegenstellten, fanden sich im Libanon, wo sich Hisbollah-Anhänger mit den Huthi solidarisierten. Auch, weil der Libanon dieselben Brüche aufweist wie die gesamte Region, geprägt von dem Konflikt zwischen dem Iran und Saudi-Arabien.

Dr. Werenfels: Die Konfliktlinien im virtuellen Raum ähneln denen in der realen Welt.

Transfeld: Aber die Konfliktparteien sind anders repräsentiert. So gab es in der arabisch-sprachigen Jemen-Debatte fast nur Pro-Saudi-Stimmen. Das liegt natürlich auch daran, dass die Regierung in Riad in Bots-Technologie investiert, also automatisierte Twitter-Accounts, die retweeten, so dass sie den Dreh dieser Debatte auf Twitter verfälschen.

Dr. Werenfels: Grundsätzlich ist es so, dass in technologisch weniger entwickelten Staaten wie Marokko, Algerien, Tunesien und Jordanien die Twitter-Community anders zusammengesetzt ist. Dort handelt es sich eher um Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. Erst wenn die Communities wachsen - wie in Ägypten und Saudi-Arabien, beginnt der Staat, sich zu fürchten und antwortet mit Zensur, Gegenpropaganda und Bots.

Wie groß ist die Tendenz, sich in seinen eigenen Vorurteilen zu vergraben, weil sich Gleichgesinnte in ihren Ansichten nur verstärken?

Transfeld: Die war übermächtig. Gerade in der saudischen Debatte hatte man nicht den Eindruck, dass eine Diskussion gesucht wurde. Zudem handelte es sich um ein indirektes Event. Die Nutzer sahen den Einsatz im Fernsehen und spiegelten oft nur wider, was auf Al-Arabia transportiert worden war - dass der Jemen vor dem Iran geschützt werden müsse. In Ägypten war die Debatte differenzierter, weil sich schon vor den Vorfällen von 2014 eine starke Bewegung gebildet hatte, die ein Bewusstsein dafür schaffen wollte, dass es sich um sexuelle Belästigung und nicht um Flirten handelt, wie das viele Ägypter bis dahin verstanden hatten.

Die Faktentreue traditioneller Medien ist im arabischen Raum wegen häufiger Regierungsnähe nicht sehr groß. Wie steht es mit der Skepsis gegenüber sozialen Medien, ist sie größer als im Westen,wo nach einer Stanford-Studie 80 Prozent junger Menschen nicht zwischen Wahrheit und Unwahrheit unterscheiden können?

Dr. Werenfels: Das Vertrauen in die sozialen Medien ist dort größer, weil viele traditionelle Medien staatlich gelenkt sind und weil das Spektrum bei Twitter und Facebook breiter ist. Das erhöht natürlich die Gefahr, dass Gerüchte schnell als Fakt genommen werden. Im arabischen Raum dürften die Nutzer ähnlich schlecht zwischen Fake-News und realen Nachrichten unterscheiden können wie im Westen.

Transfeld: Im Jemen ist die Qualität der traditionellen Medien sehr schlecht, deshalb vertrauen viele Menschen eher "Bürgerjournalisten", vor allem, wenn diese mit ihren Berichten kein Geld verdienen.

Dr. Werenfels: Zudem finden sich bei Twitter auch Artikel der "New York Times", die von den klassischen Medien neben den eigenen Regierungsquellen nicht zitiert werden.

Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit soziale Medien - egal ob in Arabien oder bei uns - Werkzeuge der Aufklärung statt solche der Manipulation sind?

Dr. Werenfels: Quellentransparenz ist entscheidend. Man muss wissen, was die Quelle ist. Letztlich ist es aber eine Frage der Schulung und der Bildung. Mit wie viel Skepsis begegnet man Informationen? In der USA-Wahlkampagne war erfahrbar, dass Faktentreue den Menschen nicht mehr wichtig war, wohl auch ein Ergebnis eines Jahrzehnte währenden Bildungsdesasters.

Transfeld: Damit Nutzer kritisch auch gegenüber sozialen Medien bleiben können, halte ich es für unerlässlich, dass der Umgang damit in der Schule erlernt wird, statt das Internet auf dem Schulgelände zu verbieten. Gegen "Fake-News"-Seiten könnte dagegen schon Facebook selbst stärker vorgehen, indem es einen Qualitätscheck für Medienseiten einführt. Im arabischen Raum gibt es das Phänomen schon seit vielen Jahren, dass diverse Nutzer sich auf ihren Accounts als Zeitung ausgeben und Nachrichten einfach erfinden. Thematisiert wird es bei uns erst jetzt, weil der Westen selbst betroffen ist.

Dr. Werenfels: In der arabischen Welt muss man allerdings bei der "Fake-News"-Debatte aufpassen, dass man nicht den Herrschern ein Mittel an die Hand gibt, um eine Kampagne gegen Aktivisten zu führen. Fehlinformationen und Verschwörungstheorien sind dort oftmals Herrschaftsinstrumente. Transparenz wird nur von einigen Aktivisten hochgehalten, die dafür nicht auch noch bestraft werden dürfen.

Das Interview führte Joachim Zießler

Quelle: Landeszeitung Lüneburg (ots)

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