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Experte Michael Meier: Versuch der Türkei, Führungsrolle in Arabien zu übernehmen, ist ein Spiel mit dem Feuer

Archivmeldung vom 23.09.2011

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 23.09.2011 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Bild: Dieter Schütz  / pixelio.de
Bild: Dieter Schütz / pixelio.de

Die Türkei rasselt gegenüber EU-Mitglied Zypern ebenso mit dem Säbel wie gegenüber dem langäÌhrigen Partner Israel. Vor allem Letzteres findet den Beifall der arabischen Straße. "Die Türkei will gestalten", sagt Experte Michael Meier von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Er beobachtet den Kursschwenk vor Ort in Istanbul mit Sorge: "Das ist ein Spiel mit dem Feuer."

Ein Bombenanschlag erschütterte Ankara. Wie sehr ist der Aufstieg der Türkei durch Terror gefährdet?

Michael Meier: Terrorismus ist leider seit den 80er-Jahren ein ständiger Wegbegleiter der türkischen Entwicklung geworden und bedroht selbstverständlich die Entwicklung. So führt seit einigen Wochen die kurdische Separatistenorganisation PKK den Kampf für ihre Ziele wieder mit Waffengewalt, hat allerdings die Verantwortung für diesen Anschlag von sich gewiesen. Das eigentliche Problem, die Lösung der Kurdenfrage, bleibt das wichtigste Thema der türkischen Innenpolitik.

Wird der PKK-Terror zusätzlich aufleben, wenn die USA aus dem Irak abziehen?

Meier: Der PKK-Terror ist der extreme Ausdruck der Unzufriedenheit der kurdischen Bevölkerung. 15 Millionen Menschen durften über Jahrzehnte ihre Sprache nicht sprechen, ihre Kultur nicht leben. Erst in den vergangenen Jahren gab es zaghafte Versuche der AKP-Regierung, die Lage der Kurden zu ändern. Nur folgte auf einen Schritt vorwärts oft einer rückwärts. Deshalb bleibt die Lage für Kurden nicht zufriedenstellend. Ziehen sich die USA demnächst aus dem Irak zurück, kann das zu einem Machtvakuum führen, das einen Rückzugsraum von Terrorzellen begünstigt. Um dies zu verhindern, steht Ankara in Verhandlungen mit der kurdischen Regierung des Nordiraks. Beide eint das Interesse, Terrorismus einzudämmen.

Fährt das Kabinett Er"dogan einen härteren Kurs gegen die PKK, um sich die Stimmen der Ultranationalisten für eine Präsidialverfassung zu sichern?

Meier: Das kann sein. Er"dogans Partei, die AKP, hat bei den Wahlen im Juni nur 327 von 550 Abgeordnetensitzen bekommen. Das heißt, es fehlen ihr drei Sitze zur 3/5-Mehrheit, um über die neue Verfassung in einem Referendum abstimmen lassen zu können. Es wäre allerdings eine schlechte Option, sich diese Stimmen von den Nationalisten der MHP zu holen. Sinnvoller wäre es, sich über einen umfassenden Dialog um eine breite gesellschaftliche Basis für die neue Verfassung zu bemühen.

Wäre das neue Präsidialsys"tem ein Fortschritt in Richtung auf Europa?

Meier: Die Diskussion um ein präsidiales oder ein parlamentarisches System ist in der Türkei schon alt. Die Meinungen sind gespalten. Selbst in Erdogans eigener Partei gibt es gewichtige Gegenstimmen -- etwa die des Staatspräsidenten. Abdullah Gül sagte: "Nichts spricht dafür, vieles dagegen." Er plädierte dafür, die bisherige Balance of Power im türkischen Regierungssystem beizubehalten -- allerdings nach einer Aufwertung der Rolle des Parlamentes.

Staatspräsident Gül betonte in Berlin Ankaras EU-Beitrittsambitionen. Setzt die Türkei nach 24 Jahren im Wartestand wirklich noch auf Europa?

Meier: Eigentlich ist die Wartezeit noch länger. 1959 gab die Türkei ihre erste Bewerbung ab, 1963 wurde das Assoziierungsabkommen abgeschlossen, 1996 folgte die Zollunion, 1999 bekam die Türkei den Status als Beitrittskandidat und 2005 wurden die Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Das ist schon eine lange Strecke: Seit mindestens 47 Jahren wartet die Türkei vergeblich auf ein klares Zeichen der EU. Selbst jetzt, da die Verhandlungen aufgenommen wurden, werden sie von einigen Ländern blockiert -- Deutschland, Frankreich und die Republik Zypern sind da zu nennen. Bisweilen gibt es gute Gründe für Blockaden, meist sind sie aber schlicht darauf ausgelegt, zu verhindern, dass die Türkei jemals Mitglied der EU wird. Das ist kein fairer Umgang mit der Türkei, und wir sind schlecht beraten, dies fortzuführen.

Aber ist die Beitrittseuphorie in der Türkei selbst nicht längst verpufft?

Meier: Diesen Umfragen sollte man nicht zu viel Gewicht beimessen. Zwar haben vor einigen Jahren tatsächlich mehr als drei Viertel aller Türken den Beitritt befürwortet. Das sank zwischenzeitlich bis auf 32 Prozent, um aktuell wieder bei 50 Prozent zu liegen. Würden sich Fortschritte greifen lassen, würde die EU fair mit der Türkei umgehen, könnte ganz schnell wieder eine Euphorie entstehen. Europa muss zunächst selbst klären, wie es zum Beitritt steht. In Deutschland hört man verschiedene Antworten, je nachdem, ob aus kultureller, geografischer, religiöser oder geostrategischer Perspektive argumentiert wird. Klar ist: Die Türkei könnte -- wenn sie sich reformiert -- die EU stärken. Reformprozesse finden ja derzeit sowohl in der EU als auch in der Türkei statt und werden sicher mehr Zeit in Anspruch nehmen, als alle anfangs geglaubt haben.

Wie ernst muss man die Ankündigung des Vizepremiers nehmen, die Beziehungen zur EU 2012 einzufrieren, weil dann die Republik Zypern die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt?

Meier: Sehr ernst. Es ist beispiellos, dass ein Beitrittskandidat von sich aus die Verhandlungen einfriert. Wobei man ganz nüchtern betrachtet feststellen muss, dass viele offene Kapitel derzeit aufgrund des Boykotts der griechischen Zyprioten ohnehin ruhen. Aktuell verschärft ein türkisch-zyprischer Streit um die Rechte an Gasvorkommen unter dem Mittelmeer den Konflikt.

Während die Beitrittsverhandlungen stocken, wendet sich die Türkei nach Osten und Süden. Strebt Ankara eine Vormachtrolle an, die sich am Osmanischen Reich orientiert?

Meier: In den vergangenen Jahren orientierte sich die türkische Außenpolitik neu: Noch nie war sie so sehr von der Innenpolitik beeinflusst. Außenpolitik in der Türkei ist nicht länger mehr eine Sache der Eliten, sondern auch eine der Straße. Das heißt, in manchen außenpolitischen Entscheidungen spiegelt sich die Meinung des Volkes wider -- etwa in Bezug auf Israel oder den arabischen Frühling. Wobei die grobe Rhetorik oft den pragmatischen Kern wirtschaftlicher Interessen überdeckt. Erdogan hat den Rückhalt eines Wahlergebnisses von fast 50 Prozent der Stimmen am 12. Juni. Das Militär scheidet als Herausforderer aus -- gerade trat der Generalstab zurück. Aus unserer Sicht ist das eigentlich eine Normalisierung. Gleichwohl erleben wir möglicherweise einen Wechsel im Politikansatz. Bisher konnte man davon ausgehen, dass die Türkei vor allem eine "soft power" sein wollte: Keine Prob"leme mit den Nachbarn war die Leitlinie, der Diplomatie gebührte der Vorrang. Beginnt mit der Ankündigung, Flottenverbände ins östliche Mittelmeer zu entsenden, um künftige Gaza-Hilfsflotten zu schützen, eine Ära der "hard power" -- ausgerechnet in einer Phase der Instabilität?

Die Leitlinie "Keine Probleme mit unseren Nachbarn" umschloss Milliardeninvestitionen in Libyen, die Weigerung, Sanktionen gegen den Iran mitzutragen und sogar eine Annäherung an die Hamas. Gelingt Ankara der Schwenk nach dem arabischen Frühling?

Meier: Ja. Zwar hat auch Erdogan den Auftakt des arabischen Frühlings verpasst. Dass er nicht reagierte, wurde ihm in der Türkei auch vorgeworfen. Doch als er realisierte, dass der arabische Frühling unumkehrbar ist, versuchte er, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen. Hier zeigt sich, dass die Türkei eine führende Kraft im arabischen Raum werden will. Sie will nicht länger nur beobachten, sie will gestalten. Die klassischen Regionalmächte Iran, Saudi-Arabien und Ägypten rücken in den Hintergrund: Teheran ist isoliert, Riad kein attraktives Modell und Kairo geschwächt. Also nutzt Ankara ziemlich clever die Gunst der Stunde. Dazu gehört auch die bewusste Eskalation gegenüber Israel. Sie sichert die Zustimmung der arabischen Straße, sorgte für den begeisterten Empfang Erdogans in Kairo. Aber dies ist ein Spiel mit dem Feuer.

Welches Risiko geht Ankara ein, wenn es im arabischen Raum die anti-israelische Karte spielt?

Meier: In Ägypten und Libyen stieß Erdogan auf Zustimmung. Beide Staaten setzen ohnehin auf die aufsteigende Wirtschaftsmacht. Allein in Libyen sind türkische Unternehmen mit 15 Milliarden Dollar Investitionen engagiert. Gegenüber Israel ist der Kurs brandgefährlich. Beide Staaten haben traditionelle Beziehungen. Die Türkei hat Israel 1949 als erster Staat mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit anerkannt. Ehrlicherweise muss man aber einräumen, dass die türkisch-israelische Verbundenheit eher ein Projekt säkularer, militärischer Eliten war. Die Menschen in der Türkei schauen eher skeptisch auf Israel. Und das schlägt sich jetzt auch in der Außenpolitik nieder. Diesen Eskalationskurs kann die Türkei nicht endlos weitertreiben. Abzuwarten bleibt, ob es Barack Obama gelingt, die türkische Regierung wieder auf einen realpolitischen Kurs zu verpflichten.

Die erste Vermittlung Washingtons blockte Ankara ab. Nimmt es die Entfremdung von den USA in Kauf?

Meier: Das glaube ich nicht. Die USA bleiben der wichtigste Verbündete. Die NATO-Einbindung ist stark, wie zuletzt die Zustimmung zum Raketenfrühwarnsystem zeigte. Obwohl in der Öffentlichkeit die kritischen Stimmen überwogen, entschied die Regierung -- parallel zur Eskalation im Verhältnis zu Israel --, das System zuzulassen. Das ist ebenso ein Signal der Verlässlichkeit an Washington wie der Abfall von Syriens Diktator Assad. Indem Ankara auf die syrische Opposition setzt, teilt es den europäisch-amerikanischen Standpunkt. Die türkisch-amerikanischen Beziehungen mögen getrübt sein, weil Washington sich als Sachwalter israelischer Interessen sieht, aber ernsthaft beschädigt sind sie nicht.

Kann Israel das Zerwürfnis kitten, indem es den Palästinenserkonflikt befriedet?

Meier: Die Türkei hatte nach dem Blutbad auf den Schiffen der Gaza-Flotte drei Forderungen aufgestellt: Eine Entschuldigung, eine Entschädigung und die Aufhebung der Blockade des Gazastreifens. Das wäre machbar. Es gab Verhandlungsrunden von Diplomaten, in denen eine Entschuldigung formuliert wurde, die keine strafrechtliche Verfolgung Israels ermöglicht hätte. Aber der ultrarechte Außenminister Liebermann lehnte sie ab. Eine Entschädigung hätte man indirekt über Stiftungen organisieren können. Eine weitere Öffnung des Gazastreifens wäre möglich, zumal ja bereits Ägypten die völlige Blockade durchbrochen hat. Möglich wäre diese Annäherung, nur fehlt es derzeit bei beiden Staaten am Willen. Das mag sich aber ändern, denn Israel hat ein vitales strategisches Interesse, mit der Türkei ins Benehmen zu kommen -- der größten Regionalmacht, einem Wirtschaftskoloss, der sechstgrößter Handelspartner Israels ist.

Wachstumsraten, die größer sind als die Chinas. Arabische Völker, die sich am Vorbild Türkei orientieren. Ist die Türkei reif für eine größere Rolle in der Weltpolitik?

Meier: Die Türkei ist noch im Wachstum begriffen. Und wie alle Heranwachsenden hat sie bisweilen Schwierigkeiten, sich der gestiegenen eigenen Bedeutung angemessen verantwortlich zu verhalten. Die Türkei kann mit ihrem Gewicht eine Menge in der Region bewegen. Aber sie muss sich davor hüten, dies -- wie derzeit -- losgelöst von allen Bündnisverpflichtungen zu versuchen. Es muss gelingen, die eigenen nationalen Interessen zu verfolgen, ohne die wichtigsten Partner in EU und NATO zu verprellen.

Quelle: Landeszeitung Lüneburg Das Interview führte Joachim Zießler (ots)

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