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Dr. Nicolai von Ondarza: Großbritanniens doppeltes Defizit und Sozialpläne sprechen gegen Steueroase

Archivmeldung vom 20.01.2017

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 20.01.2017 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Bild: Bernd Kasper / pixelio.de
Bild: Bernd Kasper / pixelio.de

Theresa May hat die Briten auf einen harten Brexit eingeschworen. Das ist zumindest in einer Hinsicht ein Erfolg für die EU, meint der Forscher und Politikberater Dr. Nicolai von Ondarza vom Thinktank SWP: "Das ist das Resultat einer seltenen Einigkeit der EU-27, die London signalisiert haben, dass der Binnenmarkt nur denen offensteht, die die vier Freiheiten Europas anerkennen." Die Drohung, Firmen vom Kontinent mit Niedrigsteuern zu locken, sei unglaubwürdig.

Theresa Mays Vision eines "global britain" sieht verstärkten Handel mit Australien, Indien und Neuseeland vor. Phantomschmerz wegen des verlorenen Empires?

Dr. Nicolai von Ondarza: Theresa May hat damit vor allem an den Nationalstolz der Briten appelliert. Die Premierministerin wollte zeigen, dass der Brexit nicht nur ein Verlust ist - nämlich der Verlust des Zugangs zu Binnenmarkt und Zollunion -, sondern auch ein positives Ziel verfolgt, nämlich dem Anspruch, ein "global britain" wiedererstehen zu lassen. Das halte ich allerdings für einen Etikettenschwindel. Denn wenn der erste Schritt zu einem vermeintlich global agierenden Vereinigten Königreich der Rückzug aus seinem größten Exportmarkt ist, dann ist dies ein Rück- und kein Fortschritt.

Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion: War das nur ein diplomatischer Eröffnungszug im Brexit-Schach oder steht für Theresa May die Begrenzung der Zuwanderung wirklich über allem?

Dr. von Ondarza: Aus meiner Sicht ist das mittlerweile tatsächlich eines der zentralen Ziele der britischen Regierung. Die Einheit der 27 EU-Staaten in dem Punkt, dass Voraussetzung für den Zugang zum Binnenmarkt der Vorrang des EU-Rechtes sowie das Akzeptieren der vier Freiheiten sei - also der freie Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital - hat den Briten schon vor Beginn der Verhandlungen gezeigt, dass eine von ihnen bevorzugte, traditionelle Lösung à la carte nicht möglich ist.

Läuft das von May angestrebte Freihandelsabkommen mit der EU nicht doch auf eine à-la-carte-Lösung hinaus?

Dr. von Ondarza: Das hängt natürlich davon ab, wie weit dieses Abkommen geht. Selbst bei den weitesten Freihandelsabkommen der EU, etwa CETA mit Kanada, gibt es noch große Unterschiede zur Binnenmarktmitgliedschaft, die den freien Zugang zum Dienstleistungs- und Finanzmarkt einschließt sowie gemeinsame Standards bedeutet.

Stichwort CETA: Diese Verhandlungen dauerten sieben Jahre. Ist es aberwitzig, den ungleich komplexeren Brexit in zwei Jahren abwickeln zu wollen?

Dr. von Ondarza: Diese Zeitvorgabe halte ich für unrealistisch. Die EU benötigt zwischen vier und zehn Jahren für die Aushandlung und Ratifizierung großer Freihandelsabkommen. Dabei steht sie aber nicht allein. Auch die USA brauchen im Schnitt vier Jahre. Im Falle Großbritanniens wird das eher länger dauern, was den Druck auf London erhöht, das es sich nicht leisten kann, den Zugang zum Binnenmarkt komplett zu verlieren, in den knapp 50 Prozent der britischen Exporte fließen.

Wie groß ist die innerparteiliche Komponente bei der "hard-brexit"-Rhetorik. Will die gelernte Brexit-Skeptikerin in erster Linie die Reihen hinter sich schließen?

Dr. von Ondarza: Es war zu beobachten, dass seit dem Brexit-Referendum die Befürworter eines harten Schnitts innerhalb der Konservativen die Meinungsführerschaft übernommen haben. May musste damit rechnen, dass ein Rückzug vom Brexit den Zusammenbruch der Tories bedeutet hätten. Deshalb wollte sie Klarheit schaffen und der Begrenzung der Zuwanderung oberste Priorität geben.

May will das ausverhandelte Abkommen dem Parlament vorlegen. Reicht das, wenn der Supreme Court am 24. Januar möglicherweise parlamentarische Mitsprache einfordert?

Dr. von Ondarza: Nach allem, was wir von dem Richterspruch erwarten, wird das nicht reichen. Denn in der Tat hat May lediglich zugesagt, das Parlament am Ende des Prozesses abstimmen zu lassen - also vor der Wahl zu stehen, dem von der Regierung ausgehandelten Vertrag zuzustimmen oder einen ungeregelten Brexit mit wirtschaftlichem und rechtlichem Chaos zu verantworten. Das ist nur eine Scheinwahl. Vor dem Supreme Court wird nun gerade verhandelt, ob das Parlament nicht bereits vom Beginn der Verhandlungen an eingebunden werden muss.

Kehren irische Nationalisten zum Terror zurück, wenn wieder ein Grenzregime zwischen Nordirland und Irland eingeführt wird?

Dr. von Ondarza: Entsprechende Signale gibt es zwar nicht, aber tatsächlich würden strenge Grenzkontrollen eine Gefahr für den Friedensprozess bedeuten. Nordirland befindet sich ohnehin in einer prekären Situation. Die Regierung ist diese Woche auseinandergebrochen. Bei den vorgezogenen Neuwahlen wird es vor allem um die Brexit-Folgen gehen, denn Nordirland hat wie Schottland mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt. Ein harter Brexit à la May würde sogar bei einer Aufrechterhaltung der Zollfreiheit zwischen Großbritannien und der EU an der inner-irischen Grenze die Kontrolle nach Waren aus Drittstaaten obligatorisch machen. Die Rückkehr von Kontrollen sogar innerhalb von Dörfern würde den Friedensprozess untergraben, der auf der gemeinsamen EU-Mitgliedschaft von Irland und Großbritannien aufbaute. Noch ruft niemand nach Gewalt, doch es gibt starke Stimmen in der Sinn Féin, die eine Vereinigung Irlands fordern.

Wie ernst muss man die Ambitionen Schottlands nehmen, ein neues Unabhängigkeitsreferendum anzustrengen?

Dr. von Ondarza: Sehr ernst, weil sich die Pläne für die Zusammenarbeit mit der EU zwischen London und Edinburgh fundamental unterscheiden. Angesichts der mehrheitlichen Zustimmung der Schotten zur EU drängt die Regierung von Nicola Sturgeon auf den Verbleib im Binnenmarkt, der für die schottische Wirtschaft essentiell ist, die Freizügigkeit und den Zugang zu den Erasmus-Programmen. All dem hat Theresa May eine klare Absage erteilt. Sturgeon will nun den Schotten die Wahl ermöglichen zwischen Mays Vision und einem unabhängigen Schottland. Aber: Ein neues Unabhängigkeitsreferendum können die Schotten nur mit Zustimmung des britischen Parlaments durchführen. Hier wird es parallel zum Brexit schwierige innenpolitische Verhandlungen geben. Das Supreme-Court-Urteil wird auch darüber entscheiden, ob die regionalen Parlamente in Nordirland, Wales und Schottland mitbestimmen dürfen. Sollte es so kommen, hätten die Schotten eine starke Verhandlungsbasis.

Wird der Brexit der Regierung May wegen der in der Übergangsphase zu erwartenden Rezession der Mittel berauben, mit denen sie einen compassionate conservatism, einen mitfühlenden Konservatismus, etablieren will?

Dr. von Ondarza: Gerade in diesem Bereich gab es größere Widersprüche in Mays Rede. Einerseits versprach sie, mehr für die Bürger zu investieren, andererseits drohte sie der EU im Falle zu großer Unnachgiebigkeit mit starken Steuersenkungen. Gerade das würde den Spielraum der Regierung reduzieren, Sozialleistungen auszubauen. Diese Widersprüche dürften während des Brexit-Verfahrens zu starken innenpolitischen Auseinandersetzungen führen.

London hofft auf eine Wiederbelebung der special relationship mit den USA. Wird das angesichts des Protektionisten Trump ein böses Erwachen?

Dr. von Ondarza: Das ist noch abzuwarten. Zwar ist Trump multilateralen Handelsabkommen wie TPP oder TTIP gegenüber skeptisch eingestellt, präsentierte sich Großbritannien gegenüber allerdings bisher sehr offen. Er ist selbst Brexit-Befürworter und will schnell mit London über ein eigenes Freihandelsabkommen verhandeln. Doch auch dabei wird "America first" gelten. Das kann für die Briten sehr unangenehm werden, parallel mit den USA und der EU über Freihandel zu verhandeln und sich jedes Mal in der schwächeren Position wiederzufinden.

Das Referendum hatte die britische Gesellschaft gespalten. Vertieft sich der Riss durch einen harten Brexit?

Dr. von Ondarza: Das ist zu erwarten. Vor dem Referendum hatten noch viele Brexit-Befürworter betont, dass dieser nicht gleichbedeutend mit einem Austritt aus dem Binnenmarkt sei. Das Referendum ging mit 48 zu 52 Prozent knapp aus. Dennoch wählte Theresa May nun eine der härtesten Varianten des Brexit aus. Wenn abzusehen ist, wie viele Verlierer dieser Strategie es in Großbritannien geben wird, dürfte diese in Frage gestellt werden. So hat die Labour Party schon sehr kritisch auf die Drohung mit einer Steueroase Großbritannien reagiert.

Ist die Drohung mit dem Steuerparadies Großbritannien so realistisch, dass die EU davor zurückzucken sollte?

Dr. von Ondarza: Ich glaube nicht. Zwar braucht man in jeder Verhandlung eine Drohkulisse. Und diese hat Theresa May aufgebaut mit der Aussage, Kontinentaleuropa den Zugang zum Finanzplatz London zu verwehren und Dumping-Unternehmenssteuern zu ermöglichen. Ich glaube aber, dass Londons doppeltes Defizit - in Haushalt und Handel - die Spielräume der Regierung in diesem Punkt doch sehr stark beschneidet. Zudem wirkt die Drohung, Gespräche mit dem wichtigsten Handelspartner abzubrechen, ohnehin nicht sehr glaubwürdig.

Die Mehrheit der Briten teilt eine Sehnsucht nach den Zeiten einer selbstbestimmten Nation. Wie viel davon werden wir in den anstehenden drei Wahlen auf dem Kontinent erleben?

Dr. von Ondarza: Dieses Phänomen wird die Diskussionen bei den Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland durchaus prägen. Ich glaube aber nicht, dass das Beispiel Großbritannien sehr werbewirksam ist für Anhänger von Exit-Szenarien. Deshalb ist es so wichtig, dass die 27 weiter geschlossen bei der Haltung bleiben, dass man die Vorzüge der Gemeinschaft nicht genießen darf, wenn man nicht auch die Pflichten übernimmt. Deshalb glaube ich nicht, dass Großbritannien schnell Nachahmer findet. Ich befürchte allerdings, dass die EU dieses Jahr in einer Art Schockstarre verbringen wird - allein fokussiert auf die anstehenden Wahlen und so unfähig, notwendige Reformen in Sachen Schengen und Euro anzugehen.

Das Interview führte Joachim Zießler

Quelle: Landeszeitung Lüneburg (ots)

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