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Experten Dr. Kai-Olaf Lang: "Europa bleibt ein Sanierungsfall"

Archivmeldung vom 24.12.2015

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 24.12.2015 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Bild: günther gumhold / pixelio.de
Bild: günther gumhold / pixelio.de

Die EU steckt in der tiefsten Krise ihrer Geschichte. Alles ist umstritten: Mehr Europa - oder weniger? Mehr Haushaltsdisziplin - oder mehr staatliche Aktivität? Offene Gesellschaften - oder "Festung Europa"?

Flüchtlingskrise, Naher Osten, Ukraine, Griechenland - Gehen die aktuellen Krisen dem Projekt Europa an die Substanz?

Dr. Kai-Olaf Lang: Krisen sind so alt wie die europäische Integration. Immer wieder gab es Phasen schweren Seegangs, neu ist die Gleichzeitigkeit mehrerer großer Krisen, die noch dazu miteinander verwoben sind. Das stellt den Glaubenssatz in Frage, nach der eine Krise eine Chance ist, aus der man gestärkt hervorgeht.

Während die mittel- und osteuropäischen Länder Solidarität einfordern, um ein Russland einzuhegen, das Grenzen nicht akzeptiert, verweigern sie Solidarität, wenn es um eine Lastenverteilung in der Flüchtlingsfrage geht. Wieso funktioniert der Interessenausgleich in diesem Punkt nicht?

Dr. Lang: Wir beobachten seit Jahren, nochmals angeheizt durch die Finanz- und Wirtschaftskrise eine wachsende Renationalisierung in der Europäischen Union. Regierungen fechten konsequenter für ihre nationalen Interessen. Die Hauptstädte gewinnen gegenüber Brüssel an Gewicht. Aus Sicht der Ost- und Mitteleuropäer stellt sich die Frage nach der Solidarität umgekehrt. Wer da europäischen Geist in der Flüchtlingspolitik anmahnt, bekommt als Antwort: Was ist mit der Energiepolitik - etwa dem Nord-Stream-2-Projekt, also der Pipeline, mit der Russland an den östlichen EU-Mitgliedsstaaten vorbei Gas nach Deutschland liefert? Oder was ist mit dem ursprünglichen Design der Flüchtlingspolitik, dem Dublin-Vertrag, der das Fernhalten der Flüchtlinge von seinen Grenzen festschrieb?

Viele Zeigefinger zeigen auf Deutschland. Wenn das wirtschaftsstärkste Land Europas den Kurs vorgibt - wie etwa in der Flüchtlingskrise, der Klimapolitik und Griechenlands Schuldendrama - stemmen sich die Partner dagegen. Agiert Deutschland nur ungeschickt oder ist es einfach zu groß für Europa?

Dr. Lang: Die Stimmung in Europa ist ambivalent. Fast alle Mitgliedsstaaten wollen mehr deutsche Führung. Sie wollen, dass Deutschland seine Verantwortung als das Land mit dem größten Potenzial wahrnimmt. Aber sie lehnen Alleingänge Berlins ab und bestehen auf einer gemeinsamen Führung. Alles andere wird als deutsche Bevormundung wahrgenommen. Aus deutscher Perspektive sind dabei zwei Punkte zu berücksichtigen: Erstens, wer Führung ausübt, muss meistens mit Gegenwind rechnen. Diese Erfahrung machen die USA seit Jahrzehnten, können deshalb besser damit umgehen. Zweitens: Man darf seine Sensibilität für die Interessen der anderen, gerade der kleineren und mittleren Länder nicht verlieren. Die Formel deutscher Diplomatie, was gut ist für Deutschland, ist auch gut für Europa, wird von den anderen nicht unterschrieben.

Führt der Zwang zu gemeinsamer Führung zu einem Europa der zwei Geschwindigkeiten, in dem "Koalitionen der Willigen" vorangehen, damit die anderen nachziehen, wenn sie können und wollen?

Dr. Lang: Das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten ist längst Realität. Nicht alle Mitgliedstaaten sind in der Eurozone, nicht alle sind im Schengen-Raum. Die EU ist infolge ihrer Erweiterungsrunden immer heterogener geworden. Gleichzeitig haben sich neue Ungleichgewichte zwischen einst paritätischen Partnern ergeben. Denken wir nur daran, dass sich Deutschland und Frankreich wirtschaftlich deutlich auseinanderentwickelt haben. Das Problem der letzten Jahre ist, dass sich neue politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Konfliktachsen ergeben haben. Vereinfacht gesagt, sind es drei große Auseinandersetzungen, um die es geht: erstens Nord gegen Süd in Wirtschafts- und Finanzfragen, also Länder, die der Haushaltskonsolidierung Vorrang einräumen gegenüber Ländern, die die Krise mit Stimuli und einer aktiven Rolle des Staates überwinden wollen. Zweitens "altes" versus "neues Europa", also Mitgliedstaaten, die das Konzept "offener Gesellschaften" verfolgen und solche, die etwa in Sachen Zuwanderung restriktiv sind. Drittens Vertiefer gegen Souveränisten. Hier geht es um die Diskussionen zwischen Ländern, die mehr Europa als Antwort auf die Krise anstreben, und solchen, die Kompetenzen von Brüssel zurückholen wollen - wie etwa Großbritannien.

Schon im nächsten Jahr könnten die Briten den Austritt beschließen. Könnte die EU das Ausscheren eines der Mutterländer der Demokratie verkraften?

Dr. Lang: Ja, aber es wäre eine Schwächung des europäischen Projektes, wenn erstmals ein Land - noch dazu ein ganz wichtiges - der Union den Rücken kehrt. Das Signal wäre fatal, weil die außen- und verteidigungspolitische Handlungsbereitschaft der EU sinken würde. Zudem würden die Fliehkräfte zunehmen. Andere Staaten könnten einen reduzierten Status einfordern. Auf der anderen Seite wäre die EU nach einem Brexit kompakter, weil ein Player fehlen würde, der auf die Bremse tritt. Frankreich würde vielleicht sogar insgeheim erfreut sein, weil Paris mit seinem dann gewachsenen Gewicht leichter seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen durchsetzen könnte.

In den Flüchtlingsbooten auf dem Mittelmeer ist Europa der Sehnsuchtsort. Warum gilt das nicht in Europa?

Dr. Lang: Die Europäer haben sich an die Errungenschaften der EU gewöhnt, halten sie für selbstverständlich. Der Ursprungsimpuls des Integrationswerkes, Frieden und Wohlstand über ein kooperatives Miteinander zu erreichen, ist in den Hintergrund gerückt. Obwohl diese Fragen gerade brandaktuell sind. Die Zeit der europäischen Prosperität ist in vielen Staaten vorüber, Deutschland ist in einer Ausnahmesituation. Im Osten Europas werden gewaltsam Grenzen verschoben. Und in der weitgefassten südlichen Nachbarschaft Europas wächst die Instabilität. Dennoch grassiert Europamüdigkeit, das Projekt entrückt den Bürgern, wird zu einem Elitenprojekt. Ich denke, Europa wird wieder attraktiv, wenn es liefert - wenn es Krisen bewältigt.

Was muss Europa liefern, damit auch die Nachkriegsgenerationen ein Verständnis dafür entwickeln, dass Europa ein Projekt ist, um den Kontinent zu befrieden?

Dr. Lang: Europa liefert ja in wichtigen Bereichen. Vor zehn Jahren hätte es kaum jemand für möglich gehalten, dass die EU-Staaten mit ihren so unterschiedlichen Interessen gegenüber Russland in der Ukraine-Krise in der Lage sind, Sanktionen gegen Russland aufzulegen. Das hat den Russland-Ukraine-Konflikt nicht lösen können, aber eine weitere Eskalation verhindert. Oder die von der EU-Kommission forcierte Energie-Union und generell die europäische Energiepolitik, die dazu beiträgt, die Osteuropäer viel weniger verwundbar zu machen und den harten Griff von Gazprom zu lockern. Ganz zu schweigen von den Vorteilen eines riesigen gemeinsamen Marktes mit einheitlichen Regeln und - trotz aller Probleme mit dem Euro - auch einer gemeinsamen Währung - gerade für eine exportorientierte Volkswirtschaft wie die deutsche. Einige konkrete Effekte Europas sind zwar von vielen erfahrbar, so etwa die reduzierten Roaming-Gebühren, sie werden aber von den Krisen überlagert. Deshalb müssen die alten Funktionen der europäischen Integration, also Europa als Wohlstands- und Schutzverbund spürbar werden. Zudem muss die EU zur Gestaltungsgemeinschaft werden. Etwa in ihren Nachbarschaften. Wenn sie nicht in der Lage ist, dort Stabilität zu schaffen, wird sie auf internationaler Ebene wenig Kraft entwickeln. Und nicht zuletzt muss die EU ihre Standards und Werte zumindest teilweise durchsetzen, etwa in den Verhandlungen über den transatlantischen Freihandel - und im Wettbewerb mit China und anderen aufsteigenden Mächten bestehen.

Die ungarische Demokratie bekommt zunehmend autokratischere Züge, Ähnliches befürchten Polen auch für ihr Land. Gefährdet die Angst vor Identitätsverlust die demokratische Verfasstheit des Kontinents?

Dr. Lang: Diese innenpolitischen Entwicklungen begannen lange vor der Flüchtlingskrise. Sie speisen sich aus Defiziten in der Funktionalität des Staatsapparates und aus einer seit dem Systemwechsel offenen sozialen Frage. Korruption, klientelistische Netzwerke und große gesellschaftliche Gruppen, die nicht am Aufschwung teilhaben, sorgten in diesen Ländern für einen Unmut der Wähler, der Parteien an die Macht brachte, die eine "Reparatur des Staates" oder eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik versprachen. Neben solchen greifbaren Problemen spielt Identitätspolitik durchaus eine Rolle. Politiker wie Viktor Orbán in Ungarn oder Jarosław Kaczyński in Polen möchten die kulturellen oder historischen Besonderheiten ihrer Länder und ein traditionelles Wertefundament stärken. Problematisch ist weniger, dass sie das tun, denn dafür haben sie ein Mandat, aber wie sie das teils tun. Ich würde etwa mit Blick auf Ungarn nicht von Autokratie sprechen, sondern von Machtzentralisierung und Mehrheitsdemokratie. Insgesamt ist die EU gefordert, wachsam auf die Stabilität der Demokratie in den Mitgliedstaaten zu schauen und sich zu überlegen, wie sie effektiv gegen mögliche Verletzungen von Mindeststandards vorgeht.

Ist es nicht bitter, wenn schwaches Krisenmanagement der EU angelastet wird, obwohl die Nationalstaaten verantwortlich sind?

Dr. Lang: In der Tat. Aber auch dieses Spiel ist nicht neu. Für Regierungen in Mitgliedstaaten hat die EU ja immer auch die bequeme Funktion, dass man eine äußere Institution hat, auf die man Fehlentwicklungen abschieben kann. Damit will ich nicht behaupten, dass nicht auch die sogenannten Gemeinschaftsorgane, also etwa die Brüsseler Kommission, oft über ihr Ziel hinausschießt oder nicht sachgerecht handelt. Wichtig scheint mir, dass wieder ein Geist der Gemeinsamkeit gegenüber einer Haltung der Rivalität zwischen den Mitgliedstaaten und Brüssel aber auch zwischen den Mitgliedstaaten selbst gestärkt wird.

In der Krise erinnern sich manche Regionen daran, dass sie allein eigentlich wohlhabend sind. In Katalonien proben Separatisten die Abspaltung, die Lombardei will nicht mehr für Sizilien zahlen, Flandern nicht mehr für Wallonien. Beendet der Aufstand der wohlhabenden Regionen die Integrationsära Europas?

Dr. Lang: Nein. Umgekehrt gilt, wenn überhaupt eine Macht das abfedern kann, dann ist dies die EU. Sollte sich Katalonien im kommenden Jahr von Spanien abspalten, gibt es mit der EU einen Rahmen, der verhindern könnte, dass Staatsgrenzen wieder zu Mauern werden. Nämlich, wenn die neuen Staatsgebilde Bestandteile des größeren, europäischen Ganzen blieben. Der Separatismus in Katalonien und Schottland ist explizit proeuropäisch. Sollte Großbritannien die EU verlassen, wird Schottland vermutlich Großbritannien verlassen, um Mitglied der EU sein zu können.

Im vergangenen Jahr kam Europa nicht aus dem Krisenmodus heraus. Bringt 2016 die Wende?

Dr. Lang: Nein. Ich vermute, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise sich zwar nicht mehr dramatisch zuspitzt - sofern es keine Schocks von außen gibt, etwa durch einen Abschwung in China -, dafür aber chronisch wird. Es dürfte schwierig werden, die auch auf deutschen Druck durchgesetzte, strenge Stabilisierungsarchitektur konsequent durchzusetzen. Frankreich etwa investiert nach den Anschlägen verstärkt in innere Sicherheit, will diese Ausgaben aber nicht im Defizitverfahren angerechnet bekommen. Hinzu kommt: Sobald die Krise nicht mehr akut ist, gerät die Notwendigkeit schmerzhafter Strukturreformen aus dem Blick. Im Syrien-Krieg ist keine Lösung absehbar. Die Flüchtlingsströme werden allenfalls durch besser kontrollierte Grenzen runterreguliert. Was stärker in den Blick geraten wird, sind die innenpolitischen Folgen der Zuwanderung, die Kosten und der auflodernde Fremdenhass.  Völlig offen ist die Entwicklung in der Ukraine. Ich glaube zwar nicht, dass der Kreml nach der Ablenkung durch sein Engagement in Syrien zum großen Schlag ausholt, weil er die Entschlossenheit des Westens wahrgenommen hat. Dennoch behält er einen Fuß in der Ostukraine. Die multiplen Krisen bleiben der Normalzustand.

Das Interview führte Joachim Zießler

Quelle: Landeszeitung Lüneburg (ots)

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