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WAZ: Die Kehrtwende der SPD

Archivmeldung vom 18.06.2010

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 18.06.2010 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Verzockt haben sich beide Spitzenleute. Hannelore Kraft, weil sie glaubte, die Regierung Rüttgers aushungern zu können. Jürgen Rüttgers, weil er glaubte, Kraft werde am Ende doch eine Große Koalition vereinbaren, selbst unter seiner Führung.

Nun wagt Kraft, getrieben von den Grünen, nach ihrer eigenwilligen Interpretation gelockt von den Liberalen, ein für dieses große Bundesland einmaliges Experiment: eine Minderheitsregierung, die so heißt, weil sie eben keine richtige Regierung ist. Weshalb tut sie das, und warum gerade jetzt? Die Grünen haben ihr zuletzt mehr oder weniger deutlich Führungsschwäche, mindestens Unentschlossenheit vorgeworfen, genau wie viele Kommentatoren. Sie ahnte, dass Passivität genauso gefährlich für sie sein könnte wie Aktivität. Sozusagen von Wespen bedroht, hat sie sich für den Griff ins Wespennest entschieden. Das ist das eine. Das andere ist die Hoffnung auf eine Wende der FDP. Parteichef Pinkwart hat gestern in einem WAZ-Gespräch der CDU  die Loyalität aufgekündigt. Ein Wink mit dem rot-gelb-grünen Zaunpfahl, so las dies Kraft absichtsvoll. Am meisten fürchtet sie den Vorwurf, sich am Ende doch mit der Linkspartei einzulassen. Dieser seltsamen Truppe, deren Präsidenten-Kandidatin ausgerechnet den Tag des DDR-Volksaufstandes zu der Geschmacklosigkeit nutzt, den Unrechtscharakter dieses Sowjet-Babies anzuzweifeln. Man sollte das alles nur nicht für einen genialen Plan halten. Kraft ist keine Strategin, sie fährt auf Sicht. Am Ende ist theoretisch vieles möglich: Ampel, Große Koalition unter ihrer Führung, Rot-Rot-Grün, Schwarz-Grün-Gelb, Neuwahlen. Was von Theorie zu Praxis wird, entwickelt sich erst in den nächsten Monaten. Krafts Risiko bleibt einstweilen. Sie hat es selbst beschrieben, noch am Dienstagabend. Wer keine Mehrheit zusammenbringe für einen Etat, gelte als Verlierer, sagte sie der SPD-Landesgruppe in Berlin. Und Zeitdruck entstehe auch nicht durch den Bundesrat, Weichenstellungen in der Atompolitik stünden erst im Spätherbst an. So haftet Krafts Entschluss etwas Irrationales an, aber seit wann geht es in der Politik nur rational zu? Die Regierung Rüttgers ist jedenfalls Geschichte, Rüttgers selbst wohl auch, heißt es jetzt von vielen Seiten in der CDU. Ein Gedankenspiel: Was wäre wohl geschehen, wenn Rüttgers Frau Kraft früh signalisiert hätte, an ihm werde eine Große Koalition nicht scheitern? Hat am Ende also die CDU diese Niederlage, in die Opposition zu müssen, selbst zu verantworten? Und wer gewinnt nun den Machtkampf in der CDU?

Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung

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