Globale Gerechtigkeit oder juristische Grenzüberschreitung? – Warum das Urteil gegen den syrischen Arzt in Frankfurt völkerrechtlich problematisch ist
Am 16. Juni 2025 hat das Oberlandesgericht Frankfurt den syrischen Arzt Alaa M. wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit und Mord zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Taten, darunter brutale Folter und Tötung von Gefangenen in einem Militärkrankenhaus in Homs (Syrien), fanden zwischen 2011 und 2012 statt – also weder auf deutschem Boden, noch gegen deutsche Staatsangehörige. Dennoch griff das deutsche Gericht zu einem scharfen juristischen Mittel: dem Weltrechtsprinzip. Es stellt sich die Frage: Ist das ein Schritt in Richtung universeller Gerechtigkeit – oder eine gefährliche Aushöhlung nationaler Souveränität und rechtsstaatlicher Prinzipien?
1. Weltrechtsprinzip – juristisches Instrument mit Sprengkraft
Das Urteil stützt sich auf das Völkerstrafgesetzbuch (VStGB), das 2002 in Kraft trat, um das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs national umzusetzen. Deutschland nimmt für sich in Anspruch, auch Taten zu verfolgen, die weder einen Täter- noch einen Opferbezug zu Deutschland haben – sofern sie unter die Kategorien Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit fallen (vgl. § 1 VStGB i. V. m. § 6 Nr. 9 StGB).
Problematisch daran: Das sogenannte Weltrechtsprinzip (engl. Universal Jurisdiction) wird international äußerst restriktiv ausgelegt. Laut der UN-Völkerrechtskommission und Kommentaren zu Art. 2 UN-Charta ist eine Strafverfolgung ohne territorialen oder personalen Bezug nur zulässig, wenn entweder:
- der beschuldigte Täter im Inland angetroffen wird (passive Autonomie), und
- der Heimatstaat nicht selbst in der Lage oder willens ist zu verfolgen (Komplementaritätsprinzip, vgl. Art. 17 Römisches Statut).
In diesem Fall wurde kein internationales Strafgericht angerufen – sondern ein nationales Gericht maßt sich an, völkerrechtliche Straftaten global zu verfolgen, obwohl Deutschland selbst nicht unmittelbar betroffen ist.
2. Souveränitätsprinzip vs. universelle Rechtsdurchsetzung
Im Völkerrecht gilt grundsätzlich das Souveränitätsprinzip (Art. 2 Nr. 1 UN-Charta). Jeder Staat ist für Recht und Ordnung auf seinem Territorium selbst verantwortlich. Eine Strafverfolgung durch fremde Staaten für inländisches Handeln – insbesondere von Staatsbeamten – wird in vielen Teilen der Welt als unzulässige Einmischung angesehen.
Gefahr: Deutschland erhebt sich de facto über das syrische Rechtssystem, ohne von einer internationalen Instanz legitimiert worden zu sein. Das birgt politische Sprengkraft, denn:
- Was, wenn andere Staaten Deutschland spiegelbildlich behandeln?
- Wie schützt sich ein Staat künftig vor „extraterritorialer Rechtsverfolgung“ durch Drittstaaten?
3. Rechtsstaatliche Risiken: Beweisaufnahme, Prozessfairness, Selektivität
Auch innerhalb des deutschen Rechtssystems wirft ein solches Verfahren erhebliche rechtsstaatliche Fragen auf:
- Wie valide sind Zeugenaussagen aus einem Bürgerkriegsgebiet über zehn Jahre nach der Tat?
- Wie unabhängig sind Zeugen, die selbst Opfer oder politische Gegner des Assad-Regimes sind?
- Wie neutral kann ein deutsches Gericht urteilen, wenn die Tat in einem Umfeld begangen wurde, das völlig andere rechtliche, kulturelle und politische Maßstäbe hat?
Es besteht das Risiko einer politisierten Strafverfolgung, bei der Symbolik über juristische Sorgfalt siegt.
4. Präzedenzwirkung: Der Weg zur globalen Gerichtsbarkeit?
Wenn Deutschland diese Praxis fortführt – und Nachahmer findet –, entsteht faktisch ein globales Netzwerk nationaler Strafgerichte, die sich weltweit zuständig erklären. Doch:
- Wer legt fest, welche Taten verfolgt werden?
- Wer entscheidet, wann ein Staat "unwillig" oder "unfähig" ist?
- Und vor allem: Wo bleibt der völkerrechtlich vorgesehene Weg über den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH)?
Diese Entwicklung kann zu einem „juristischen Interventionismus“ führen, bei dem nationale Justizsysteme zu politischen Werkzeugen werden – abhängig von geopolitischen Interessen und internationalen Machtverhältnissen.
5. Legitimes Anliegen, gefährlicher Weg
Dass Folter und Mord an Gefangenen schwere Verbrechen sind, ist unstrittig. Dass Täter zur Rechenschaft gezogen werden müssen – ebenso. Doch der Weg dorthin ist entscheidend. Wenn nationale Gerichte beginnen, universelle Gerechtigkeit auf eigene Faust zu verwirklichen, droht ein Rückfall in selektive Rechtsdurchsetzung, der mehr destabilisiert als schützt.
Der Anspruch auf globale Gerechtigkeit darf nicht zur Aushöhlung von Rechtssicherheit, Souveränität und internationaler Verfahrensordnung führen. Der Fall Alaa M. sollte daher nicht als Maßstab künftiger Strafverfolgung gelten – sondern als Anlass für eine kritische Debatte über die Reichweite nationaler Strafgewalt.
Datenbasis:
- Urteil des OLG Frankfurt, 16.06.2025, Az. 5 - 3 StE 2/21-4 - 2/21
- Völkerstrafgesetzbuch (VStGB)
- Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (2002)
- Art. 2 UN-Charta (Souveränitätsprinzip)
- UN International Law Commission, Report on Universal Jurisdiction (2014)
- Kai Ambos: Völkerstrafrecht (2011), S. 35–65 – Verlagsseite (C.H. Beck)
- Claus Kreß: Universal Jurisdiction over International Crimes and the Institut de Droit International, Journal of International Criminal Justice (2006)
Quelle: Extremnews