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60 Jahre nach Gründung Israels droht religiöser Fundamentalismus als neue Gefahr, sagt der Historiker Prof. Moshe Zimmermann

Archivmeldung vom 10.05.2008

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 10.05.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Ausgelassen feiert Israel den 60. Jahrestag seiner Gründung. Doch schwere Hypotheken belasten die Feierlichkeiten: Die soziale Kluft im Lande wächst trotz Wirtschaftsboom. Skandale von Politikern untergraben das Ansehen des Staates, Frieden bleibt ein Traum. Der Jerusalemer Historiker Moshe Zimmermann zieht eine Bilanz nach 60 Jahren Israel und wagt einen Ausblick.

Er warnt: Der Trend zu religiösem Fundamentalismus in und außerhalb Israels mindert die Chancen auf Versöhnung.

    Eine Mehrheit der Deutschen erkennt keine besondere Verantwortung für Israel an. Schockiert Sie diese Umfrage? Prof. Moshe Zimmermann: Nein, das schockiert mich keineswegs. Wenn 53 Prozent der Bürger eine besondere Verantwortung gegenüber Israel verneinen, heißt das nicht, dass sie die Bekämpfung von Antisemitismus ablehnen. Eine derartige Umfrage ist sehr stark tagespolitisch geprägt -- und da Israels Politik in den besetzten Gebieten keinen guten Ruf hat, kann einen ein solches Ergebnis nicht erstaunen. Die Regierung, das offizielle Deutschland, benutzt die Formel von der "besonderen Verantwortung" als Parole. Aber für die einfachen Bürger sind das nur Floskeln. Ihnen scheint diese Formel gleichbedeutend zu sein mit einer Benachteiligung der Palästinenser. Würde gefragt werden, ob es eine besondere Verantwortung gegenüber Juden hinsichtlich des Kampfes gegen Rassismus geben, käme es nicht zu 53 Prozent Ablehnung.

    In 60 Jahren hat Israel die Wüste erblühen lassen und Juden unterschiedlichster Herkunft integriert. Ist Israel eine Erfolgsgeschichte? Prof. Zimmermann: Was Integration anbelangt, kann man dies in der Tat als Erfolgsgeschichte bezeichnen. Hier wurden Gruppen von Juden mit ganz unterschiedlichen Hintergründen, die kaum Kontakt zueinander hatten, zu einer Gesellschaft mit einem gemeinsamen Nenner geformt. Von diesem Erfolg könnten auch andere Einwanderungsländer lernen, zum Beispiel in Europa. Aber andere Aspekte stellen das Prädikat "Erfolgsgeschichte" in Frage: Eine Gesellschaft, die es in 60 Jahren nicht schafft, Konflikte mit der Umgebung -- vor allem den Palästinensern -- zu beenden, kann man nicht als erfolgreich bezeichnen.

    Immer wieder musste Israel um seine Existenz kämpfen. Doch auch nach 60 Jahren will Teheran Israel von der Landkarte radieren. Wann darf Israel in Frieden leben? Prof. Zimmermann: Das ist eine Frage für Propheten. Die Tatsache, dass man nicht in Frieden leben kann, hat viel damit zu tun, dass sowohl die israelische als auch die arabisch-palästinensischen Gesellschaften nationalistisch orientiert sind. Beide Seiten halten die Nation für die Krönung des kollektiven Bewusstseins -- wie die Europäer im 19./20. Jahrhundert. Von daher sind Konflikte wahrscheinlicher als Versöhnung. Erst wenn man von der Kombination eines extremen Nationalismus mit religiösem Eifertum abrückt, gibt es eine Chance für den Frieden. Zudem muss man noch hoffen, dass auch im Iran ein Wandel eintritt. Iran, der seine Feindschaft zu Israel aus religiösen Motiven nach 1979 erfunden hat. Frieden mit den Palästinensern würde auch Israels Akzeptanz bei seinen arabischen Nachbarn stärken. Woran krankt der Friedensprozess? Prof. Zimmermann: Unser Annus mirabilis war das Jahr 1967 mit dem Sechstagekrieg. Danach entwickelte sich in Israel eine nationalromantische, religiös gefärbte Stimmung. Auf der Gegenseite war es ähnlich. Diese Parallelentwicklung sorgt dafür, dass der Konflikt weitergeführt wird statt ihn zu beenden. Weil Israel die romantische Vorstellung des Heiligen Landes in politische Realität verwandelt, indem es Siedlungen baut, verschärft es die Spannungen.

    Wurde in dem "Wunderjahr" 1967 auch das Kibbuz-Ideal der Gleichheit, dem die Gründergeneration anhing, beschädigt, als Israel Territorium besetzte -- und plötzlich billige palästinensische Arbeitskräfte zur Verfügung standen? Prof. Zimmermann: Das hat weniger mit den billigen Arbeitskräften aus den besetzten Gebieten zu tun als viel mehr mit einer neoliberalen Verwandlung des Wohlfahrtsstaates, wie sie sich auch in Europa vollzog. Die Kibbuzim wurden vernichtet unter der Regierung Begin -- also einem klar nationalistischen und kapitalistischen Kabinett -- ab 1977. Damals wurde der Traum von einer gerechten und egalitären Gesellschaft aufgegeben. Seitdem haben die Kibbuzim und die sozialdemokratische Idee keine Chance mehr in Israel gehabt. Ist Israel bereit, sich von der Idee eines "Groß-Israel" zu verabschieden? Prof. Zimmermann: Die Mehrheit in Israel ist bereit, das zeigen Umfragen, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen. Nicht aus allen, denn die wirklich großen Siedlungen zu räumen, ist für die meisten Israelis undenkbar. Aber 90 Prozent der besetzten Gebiete würden die meisten Israelis für den Preis des Friedens aufgeben.

    Hat der allgegenwärtige Terror die israelische Gesellschaft verändert? Prof. Zimmermann: Der Terror hat das Land vor allem in den Jahren zwischen dem Oslo-Abkommen 1994 und der zweiten Intifada 2004/05 sehr verunsichert. Es bildete sich eine Art Abwehrmechanismus heraus, der eine Absage an eine humanitäre Behandlung der Palästinenser einschloss. Man war so weit terrorisiert, dass man das ganze palästinensische Volk als Terroristen definierte.

    Bedroht Terror die Fähigkeit der Gesellschaft, demokratisch zu bleiben? Prof. Zimmermann: Israel ist in dieser Beziehung ein Mikrokosmos der Welt. In dem Moment, in dem man terrorisiert wird, ist die Reaktion radikal. Das erlebten wir in den USA nach dem 11. September, aber auch in Großbritannien, Spanien und Deutschland. Unter Terrorangst sind die Menschen bereit, auf demokratische Werte zu verzichten. In Israel hat die Demokratie nach zehn Jahren intensiven Terrors zwar nicht aufgegeben, aber eingebüßt.

    Kann die EU bei der Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes helfen? Prof. Zimmermann: Die EU muss mehr unternehmen als bisher. Ihre beiden Standardargumente zur Begründung ihrer Zurückhaltung ziehen nicht mehr: Zum einen hieß es: Die USA würden es richten. Das funktioniert im Moment nicht, weil die USA schwächer geworden sind. Versucht Washington, eine neue Ordnung zu schaffen, sorgt es nur für mehr Unordnung. Zum zweiten vertrat die EU die Ansicht, die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands mache ein intensiveres Engagement in Nahost unmöglich. Doch kaum ein Israeli identifiziert das heutige Europa mit dem der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Deshalb kann Europa mehr wagen in der Region.

    Beinhaltet das auch europäische Friedenstruppen, die als Puffer zwischen den Gegnern fungieren könnten? Prof. Zimmermann: Die Idee von Friedenstruppen ist von Israel längst akzeptiert worden. Auf den Golanhöhen sind Österreicher stationiert und entlang der Küsten patrouillieren Schiffe der deutschen Marine. Aber für die Lösung des Konfliktes mit den Palästinensern sind Friedenstruppen völlig inadäquat. Die besetzten Gebiete sind klein und es fehlt wegen der vielen Siedlungen an klaren Grenzen. Deshalb machen hier Friedenstruppen keinen Sinn. Wertvoll wäre eine europäische Initiative für Verhandlungen über einen Abzug aus den besetzten Gebieten.

    Behindert der wichtigste israelische Verbündete, die USA, sogar eine umfassende Friedenslösung, indem es Syrien zum Paria stempelt? Prof. Zimmermann: Eindeutig ja. Diese Haltung der USA gegenüber Syrien hemmt Israels Politik. Es gibt in Israel sowohl auf dem linken wie auf dem rechten Flügel genug Politiker, die bereit wären, für einen Frieden mit Syrien auf die Golanhöhen zu verzichten. Indem die für die Gestaltung einer eigenen Ordnung zu schwachen USA dies blockieren, torpedieren sie den Friedensprozess in Nahost.

    Halten Sie es für realistisch, dass es wirklich Geheimverhandlungen zwischen Israel und Syrien gibt, wie syrische Oppositionelle behaupteten? Prof. Zimmermann: Ja, das wurde hier eingeräumt, wenn auch keine Details genannt wurden. Ich vermute, dass nicht nur die Türkei, sondern auch Deutschland Vermittlungs"dienste leistet. Europäer versuchen, diese Hürde zu beseitigen, warten aber geduldig auf den neuen US-Präsidenten.

    Niemand eignet sich so gut zum Propheten wie ein Historiker: Wie sieht Israel in zehn Jahren aus? Prof. Zimmermann: Israel 2008 setzt verstärkt auf Hightech, deshalb wird Israel 2018 ein technologisch sehr stark entwickeltes Land sein. Israel wird einen Weg gefunden haben, mit den Nachbarn einigermaßen in Frieden zu leben. Das Problem werden nicht mehr die Palästinenser oder die arabischen Staaten sein, sondern die stärker werdende fundamentalistische Religiosität auf jüdischer wie arabischer Seite. Nur wenn das Pendel zurückschlägt zuguns"ten der Betonung des individuellen Wohlstandes auf der Welt, hat der Frieden eine echte Chance. Das Interview führte Joachim Zießler

Quelle: Landeszeitung Lüneburg

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