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Die Flüchtlingskrise: "Made in Europe" und "Made in USA"

Archivmeldung vom 16.09.2015

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 16.09.2015 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Collage wichtiger Schauplätze im „Arabischen Frühling“. Im Uhrzeigersinn oben links beginnend: Proteste auf dem Tahrir-Platz in Ägypten, in Tunesien, im Jemen, in Bahrain, Syrien und Libyen
Collage wichtiger Schauplätze im „Arabischen Frühling“. Im Uhrzeigersinn oben links beginnend: Proteste auf dem Tahrir-Platz in Ägypten, in Tunesien, im Jemen, in Bahrain, Syrien und Libyen

Foto: ليبي
Lizenz: CC BY-SA 3.0
Die Originaldatei ist hier zu finden.

Die deutsche Ausgabe des russischen online Magazins "Sputnik" berichtet auf ihrer Webseite, dass sich langsam die folgende Erkenntnis durchsetzt: Wird keine Lösung für den Syrien-Konflikt gefunden, so werden schon Millionen vor den Toren Europas um Einlass begehren. Statt immer höhere Zäune an den EU-Außengrenzen zu errichten, würde als erste Maßnahme reichen, die Hilfe für die Flüchtlinge in Syrien und dessen Nachbarländern aufzustocken.

Weiter heißt es: "Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel, von Flüchtlingen auf dem Weg nach Deutschland als »Unsere Mutter« gepriesen und auf Hochglanzplakaten als Ikone verehrt, hat angesichts der Menschenmassen, die dieser Tage nach Deutschland und in einige andere Länder der EU wollen, geäußert, es gelte, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Allein, sie ist nicht willens.

Fast zwölf Millionen Syrer sind Kriegsflüchtlinge. Das ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Mittelmeeranrainers. 4,3 Millionen Syrer haben seit 2011 Schutz in den Nachbarländern gesucht, im Libanon, in Jordanien, im Irak und in der Türkei. Das Gros der syrischen Vertriebenen, fast acht Millionen Menschen, muss im Kriegsgebiet selbst versorgt werden – und die Mittel werden immer knapper. Wenn die Kampfhandlungen weiter andauern, werden auch sie sich außer Landes begeben. Und wer kann, wird sein Glück in Europa suchen. Darauf hat gerade Mokhtar Lamani, von 2012 bis 2014 UN-Sonderbeauftragter für Syrien, aufmerksam gemacht.

Das für die Flüchtlingsversorgung zuständige Welternährungsprogramm (WFP) klagt seit Monaten über fehlende Mittel. In Jordanien und im Libanon bekommen Hunderttausende Syrer nicht mehr genug zu essen, weil der UNO das Geld fehlt. Die Lebensmittelgutscheine für Bedürftige mussten auf 14 Dollar pro Person und Monat halbiert werden. Viele Staaten überweisen teilweise selbst zugesagte Hilfsgelder nicht. »Die mangelhafte Finanzierung trägt dazu bei, dass Menschen Richtung Europa ziehen«, so das WFP.

Was die Menschen dort also brauchen, ist zunächst eine anständige Versorgung vor Ort. Der Leiter eines Flüchtlingslagers im Nordirak hat im ZDF gerade die einfache Rechnung aufgemacht: Zehn Prozent der Gelder, die die EU jetzt für die Unterbringung von Flüchtlingen in ihren Mitgliedsländern ausgeben muss, würden reichen, die Menschen in die Region zu halten statt sie in die Arme von Schlepperbanden und auf lebensbedrohliche Fahrten über das Mittelmeer zu treiben.

Unabdingbar ist eine Perspektive auf ein Ende des seit vier Jahren andauernden Krieges. Russland hat angesichts der dramatischen Flüchtlingsbilder einmal mehr daran erinnert, dass die Regierungsarmee Syriens die »einzige organisierte aktive Kraft« gegen die Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) ist. Außenminister Sergej Lawrow verteidigt die russische Hilfe für Damaskus. Die dortigen Regierungskräfte trügen »die Hauptlast im Kampf gegen Terroristen wie den ›Islamischen Staat‹ und andere Extremisten«. Lawrow: »Wir haben geholfen und werden der syrischen Regierung auch weiter helfen, die Armee mit der nötigen Ausrüstung zu versorgen, damit sie ein libysches Szenario verhindert.«

Präsident Wladimir Putin will noch in diesem Monat auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen für die Etablierung einer internationalen Antiterrorallianz unter Einbindung seines Amtskollegen Baschar Al-Assad in Damaskus plädieren.

Russlands Position bekommt zunehmend Unterstützung in deutschen Medien. Der Publizist Götz Aly, Sympathien für Putin und Assad unverdächtig, hat den Lesern der Berliner Zeitung gerade erklärt: »Das militärische Vorpreschen Moskaus in Syrien ist für die Alawiten angesichts der Bedrohung durch den ›Islamischen Staat‹ überlebenswichtig. Sobald es gelingt, auch mit russischer Hilfe und syrischen Regierungstruppen, den IS in Schach zu halten, kann verhandelt werden.« Und weiter: »In diesen Tagen verstärkt Russland seine militärische Präsenz in Syrien massiv und unterstützt die Regierung Assad mit Waffen. Ich finde das in der gegenwärtigen Situation beruhigend, und zwar nicht, weil man Assad dauerhaft retten oder den russischen Präsidenten hofieren müsste, sondern aus drei aktuellen Gründen. Erstens ist es unverantwortlich, einen Staat ins Chaos zu stürzen und dessen Zivilisten zu Objekten rivalisierender Machtgruppen, Plünderer und Massenmörder zu machen. Die Beispiele Somalia, Kongo, Irak und Libyen sollten jeden Zweifler eines Besseren belehrt haben. Zweitens müssen die Großstädte Damaskus und Aleppo vor der Übernahme durch die Milizen des IS und der Al-Nusra-Front geschützt werden. Das versteht sich aus Gründen akut erforderlicher Nothilfe von selbst. Die militärisch ineffizienten US-amerikanischen und britischen Luftangriffe dienen diesem Ziel nicht. Drittens fragt sich, wie die syrischen Alawiten davor geschützt werden können, dass die IS- und Al-Nusra-Kämpfer sie mit Vertreibung, Versklavung, Massenvergewaltigung und Massenmord überziehen.«

Auch der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat verteidigt die russische Unterstützung für die syrische Führung. Diese sieht er »in immer größerer Bedrängnis«. Im ZDF warnte der langjährige NATO-Militär gerade, ein Sturz Assads würde zu einer IS-Herrschaft führen. »Das kann niemand wollen«, so Kujat. Das Haupthindernis für eine Lösung des Syrien-Konflikts habe bisher darin bestanden, dass der Westen Assad beseitigen wollte, für Russland Syrien aber ein »strategischer Partner« sei. »Aber in einem sind sich inzwischen alle einig – das ist das politische Ziel, diesen Krieg zu beenden.« Unabdingbar sei, sich mit Russlands Präsident Wladimir Putin an einen Tisch zu setzen und zu einer politischen Lösung für diesen Konflikt zu kommen. »Wenn es gelingt, eine gemeinsame Vereinbarung mit Putin zu finden, dann haben wir Bodentruppen dort, nämlich die syrische Armee.«

Im NDR warnte General a.D. Kujat, bislang hätten Europa und Deutschland nur einen Bruchteil der Syrer auf der Flucht erlebt. Es sei wichtig und richtig, den Flüchtlingen zu helfen. Aber nur, wenn der Krieg in Syrien beendet werde, könne die Flüchtlingsproblematik zu einem wirklichen Ende kommen.

Deutschland müsse sich »klar positionieren« und sich entscheiden. Entweder geht es darum, das Assad-Regime zu stürzen, oder aber die Terrorgruppe »Islamischer Staat« zu bekämpfen. Beides zusammen gehe nicht.

»Blowback«, Rückstoß, nennt sich das, was da gerade passiert. Die nach Europa strömenden Flüchtlinge aus Syrien – aber auch aus dem Irak, aus Libyen, Afghanistan und Pakistan – sind Folge der vom Westen betriebenen Regime-Change-Politik der vergangenen Jahre. Der aus dem Geheimdienstbereich stammende Begriff wurde vor allem durch das Buch »Blowback: The Costs and Consequences of American Empire« des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers und ehemaligen CIA-Beraters Chalmers Johnson bekannt. Auf Deutsch ist es im Jahr 2000 unter dem Titel »Ein Imperium verfällt. Wann endet das amerikanische Jahrhundert?« im Blessing-Verlag erschienen.

Allerdings müssen nicht die Vereinigten Staaten als Hauptverantwortlicher der Militärinterventionen im Nahen und Mittleren Osten die Folgen des »Blowback« tragen, sondern ihre Mitläufer und willigen Helfer in »old Europe«.

Neben der Benennung der Fluchtursachen sollten endlich auch die Flüchtlinge selbst richtig benannt werden. James Paul vom »Global Policy Forum«, einem Thinktank, der die UNO berät, hat eine griffige Formulierung gefunden. »Die meisten Flüchtlinge, die nach Europa kommen, fliehen vor Konflikten in ihren Ländern, die mit direkten oder indirekten westlichen Interventionen begonnen haben«, so Paul auf Afghanistan, Pakistan, Irak, Somalia, Jemen und Libyen verweisend. Der Begriff »Regime Change Refugees« helfe, den Fokus darauf zu legen, wer in erster Linie verantwortlich ist für ihr Schicksal.

Die Flüchtlingskrise ist »Made in Europe« und »Made in USA«. Ohne diese Erkenntnis und die notwendigen Schlussfolgerungen daraus werden die gerade noch Willkommen-Geheißenen instrumentalisiert für die nächste Intervention. Das emotionale #refugeeswelcome vom Boulevardblatt Bild ist nichts ohne die überfällige politische Präzisierung #regimechangenot."

Quelle: Sputnik (Deutschland)

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