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Iraker verlieren die Hoffnung

Archivmeldung vom 19.03.2007

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 19.03.2007 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Jens Brehl

Vier Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins bestimmen zunehmend Resignation und Traumatisierung die Stimmung unter den Irakern. Das ist das Ergebnis einer umfangreichen Umfrage unter mehr als 2000 Irakern, die das Meinungsforschungsinstitut "D 3 Systems" im Auftrag von WDR/ARD, ABC News, BBC und der Zeitung USA Today durchgeführt hat.

In einer von Gewalt und einem fast vollständigen Zusammenbruch der zivilen Infrastruktur geprägten Gegenwart glaubt nur noch eine Minderheit (42 %) der Befragten, dass es ihre Kinder einmal besser haben werden. Kurzfristig rechnet sogar nur etwas mehr als ein Drittel der Iraker damit, dass sich ihre Situation deutlich (12 %) oder teilweise (23 %) verbessert. Bei früheren Umfragen in den Jahren 2004 und 2005 hatten noch rund 80 Prozent der Befragten mit Optimismus in die Zukunft geblickt. "Hier hat sich in den letzten Monaten eine dramatische Veränderung ergeben", erläutert Arnd Henze, stellvertretender Leiter Programmgruppe Ausland, der die Umfrage für den WDR betreut hat. "Bis Ende 2005 haben die Menschen vieles ertragen, weil sie nach den Wahlen in ihrem Land auf einen Neuanfang hofften. Diese Hoffnung ist bitter enttäuscht worden."

Gewalt bestimmt den Alltag, Zustimmung zu Anschlägen auf Besatzer

Als dringlichstes Problem erleben die Iraker die fehlende Sicherheit im Lande. 74 Prozent der Befragten fühlen sich in ihrer eigenen Nachbarschaft nicht sicher - mehr als doppelt so viele wie bei der letzten Umfrage im November 2005. Eine große Zahl von Irakern gibt an, dass Angehörige im eigenen Haushalt (17 %) oder im engsten Familien- und Freundeskreis außerhalb des eigenen Haushalts (47 %) unmittelbar Opfer von Gewalt wurden. Die Hauptschuld dafür wird den USA und Präsident Bush zugerechnet (40 %), gefolgt von Al Quaida und ausländischen islamistischen Kämpfern (18 %).

82 Prozent der Befragten haben kein Vertrauen in die Besatzungstruppen, mehr als drei Viertel (78 %) lehnen ihre Anwesenheit ab bzw. halten sie für eine wesentliche Ursache für die Gewalt im Lande (69 %). Allerdings befürworten nur 35 Prozent einen sofortigen Abzug, während eine Mehrheit die ausländischen Truppen erst ziehen lassen will, wenn sich die Sicherheitslage verbessert hat und die irakischen Sicherheitskräfte dies garantieren kann. Arnd Henze: "In diesem Widerspruch kommt die ganze Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck: Der gegenwärtige Zustand ist unerträglich, aber die Alternative eines schnellen Abzugs weckt noch größere Ängste." In diesem Spannungsverhältnis finden Anschläge auf Besatzungstruppen erstmals die Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung: 51 Prozent der Iraker (94 % der Sunniten) halten Angriffe für legitim, eine Verdreifachung gegenüber 2004.

Nur eine Minderheit von 36 Prozent glaubt, dass die Hinrichtung von Saddam Hussein den Versöhnungsprozess im Irak voranbringen wird, während eine Mehrheit von 53 Prozent (bei den Sunniten 96 %) vom Gegenteil überzeugt ist. In dieser, wie in einer Reihe weiterer Fragen, kommt eine extreme Polarisierung zwischen Sunniten und Shiiten zum Ausdruck.

Zivile Infrastruktur weitgehend zusammen gebrochen

Neben der anhaltenden Gewalt bestimmt der Zusammenbruch der zivilen Infrastruktur den Alltag der Menschen. In allen Bereichen des täglichen Lebens wird die Situation heute als dramatisch schlechter empfunden als in den Jahren 2004 und 2005. Bis zu 88 Prozent der Befragten beschreiben die Versorgung mit Strom und Wasser, das Gesundheitssystem und die Schulen, die Arbeitsmöglichkeiten und lokalen Verwaltungen als schlecht bis sehr schlecht. In keinem dieser Bereiche findet sich eine Mehrheit, die auch nur graduelle Verbesserungen innerhalb des nächsten Jahres erwarten würde. Die Umfrage von WDR/ARD und Partnern fragt erstmals nach den charakteristischen Symptomen traumatischer Erkrankungen wie Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Wut und Depressionen. 71 Prozent der Befragten bejahten mindestens drei von vier Symptomen. Arnd Henze: "Die Hoffungslosigkeit hat alle Lebensbereiche erfasst. Das macht die Menschen krank."

Fast jeder Dritte will das Land verlassen

30 Prozent der Befragten würden am liebsten den Irak verlassen. Aus dieser Gruppe geben 42 Prozent an, die Auswanderung konkret zu planen. Auf die Bevölkerungszahl von 25 Millionen hochgerechnet, sind das mehr als drei Millionen weitere Flüchtlinge. Arnd Henze: "Bedenkt man, dass schon jetzt fast zwei Millionen Iraker in die Nachbarländer geflohen sind, so muss sich die Weltgemeinschaft, vor allem aber auch Europa, auf den größten Massen-Exodus der letzten Jahre einstellen."

Unklarheit über den weiteren politischen Weg des Landes

Mit Blick auf die weitere politische Entwicklung zeichnet die Umfrage ein gespaltenes Bild der Stimmung im Irak. Eine deutliche Mehrheit (58 %) möchte an der Einheit des Landes festhalten, nur 14 Prozent befürworten eine Spaltung des Irak in drei unabhängige Staaten. Entgegen der gewünschten Struktur rechnen allerdings deutlich mehr (23 %) Befragte damit, dass es innerhalb der nächsten fünf Jahre zur Spaltung des Landes kommen wird. Angesichts der Probleme im Land befürwortet nur noch eine Minderheit von 43 Prozent eine demokratische Regierungsform, während 34 Prozent einen einzelnen "Starken Führer" und 22 Prozent einen religiös-islamischen Staat wünschen. Auf längere Sicht gewinnt die Demokratie allerdings wieder mehr Anhänger (53 %). Arnd Henze: "Hier zeigt sich auf deutlich niedrigerem Niveau das gleiche Phänomen wie in den früheren Umfragen: Demokratie erscheint als schönes Ideal - man traut ihr aber nicht die Kraft zu, konkrete Probleme zu lösen."

WDR-Chefredakteur: Umfrage von hoher methodischer Genauigkeit

Die Umfrage wurde von dem auf den Nahen und Mittleren Osten spezialisierten Umfrageinstitut "D3 Systems" unter 2212 Irakern über 18 Jahren durchgeführt. Die Interviewer, von denen fast alle schon an früheren Umfragen beteiligt waren, wurden intensiv geschult und auf kulturelle und religiöse Sensibilitäten vorbereitet. Mehr als die Hälfte der Interviews, die auf der Grundlage der neuesten Bevölkerungsstatistiken von 2005 in mehr als 400 Orten und Stadtteilen in allen /-18 Provinzen des Irak durchgeführt wurden, wurde von Supervisoren per Telefon oder Hausbesuch auf ihre Genauigkeit hin überprüft. Aus zwölf der 18 Regionen melden die Interviewer erhebliche Behinderungen, Zwischenfälle und zum Teil heftige Kämpfe und Anschläge während der Befragungen. WDR-Fernseh-Chefredakteur Jörg Schönenborn, der die Ergebnisse der Umfrage am Montagabend in den Sendungen "Tagesschau" und "Tagesthemen" präsentieren wird, zeigte sich beeindruckt von der methodischen Genauigkeit und Professionalität der Umfrage: "Trotz der extremen Bedingungen hält die Befragung strengsten demoskopischen Maßstäben stand. Das ist eine enorme logistische Leistung der Mitarbeiter im Irak." Die statistische Fehlerquote der Umfrage liegt bei 2,5 Prozent.

Quelle: Pressemitteilung WDR

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