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,,Europa wird in 20 Jahren zu klein sein" LZ-Interview mit EU-Kommissar Günter Verheugen

Archivmeldung vom 27.06.2008

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 27.06.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Das Nein der Iren zum Reform-Vertrag von Lissabon bringt Europa erneut in Bedrängnis. Die Lösungsvorschläge reichen vom Rauswurf der Skeptiker bis zu einem Erweiterungsstopp. EU-Kommissar Günter Verheugen lehnt im Interview mit der Landeszeitung Lüneburg Schnellschüsse ab. Der SPD-Politiker sieht die Handlungsfähigkeit der EU nicht eingeschränkt -- auch nicht durch den Beitritt weiterer Länder.

Wie groß ist der Frust für einen Europapolitiker, wenn man nach jahrelangen zähen Verhandlungen immer wieder vor einem Scherbehaufen steht? Günter Verheugen: Ich bin nicht frustriert, wenn ein Volk von seinem demokratischen Recht Gebrauch macht, zu einer politischen Entscheidung Ja oder Nein zu sagen. Das müssen wir akzeptieren. Dass man bei der Weiterentwicklung der europäischen Integration immer wieder Rückschläge einstecken muss, wissen wir seit Jahrzehnten. Wir wissen aber auch, dass diese Hindernisse immer überwunden wurden. Wir werden auch das irische Problem überwinden.

Der Vertrag von Lissabon steht für mehr Demokratie und weniger Bürokratie. Wenn die Bürger das Wort haben, sagen die dennoch häufig Nein. Warum gelingt es nicht, den Menschen Europa nahe zu bringen? Verheugen: Der Reform-Vertrag von Lissabon zieht die Lehren aus dem Unbehagen gegenüber der EU, das wir in vielen europäischen Gesellschaften erleben. Dieser Vertrag ist ja der Versuch, mehr Transparenz, mehr Demokratie und bessere Entscheidungsabläufe zu verwirklichen. Der Vertrag soll das Subsidiaritätsprinzip fester verankern, er weist den nationalen Parlamenten eine größere Rolle zu, sorgt für eine angemessene und wirkungsvolle Vertretung nach außen -- alles das, was die Bürgerinnen und Bürger ausweislich aller Umfragen und Debatten in Europa wollen. Trotzdem haben die Iren Nein gesagt. Gleichzeitig haben sie aber die positivste Einstellung zur Europäischen Union unter allen Mitgliedstaaten. Ich sehe dafür zwei Gründe. Erstens: Bei Referenden muss man immer damit rechnen, dass das Ja oder Nein sich gar nicht auf die eigentliche Referendumsfrage bezieht, sondern dass ganz andere Themen eine Rolle spielen. Und zweitens ist es in der Tat so, dass in vielen europäischen Gesellschaften -- auch bei uns in Deutschland -- das Wissen darüber, dass wir ohne die europäische Integration im 21. Jahrhundert weder Wohlstand noch Sicherheit und Freiheit verteidigen können, nicht mehr so präsent ist, wie es in den Gründerjahren der EU gewesen ist.

Ist die Kommunikationspolitik gescheitert oder ist das Thema Europa für die Bürger einfach zu komplex? Verheugen: Bei aller Vorsicht glaube ich, dass Internationale Verträge, die sich mit außerordentlich komplizierten institutionellen Fragen beschäftigen, nicht der ideale Gegenstand für einen Volksentscheid sind. Aber es hat keinen Sinn, sich darüber Gedanken zu machen. Der Vertrag sieht Hoheitsübertragungen auf die europäische Ebene vor, und laut irischer Verfassung kann das nur durch einen Volksentscheid bewilligt werden. Jedes Land muss seiner verfassungsmäßigen Ordnung entsprechend den Ratifizierungsprozess vorantreiben. Zudem haben wir keine europäische Öffentlichkeit und kein europäisches Volk. Deshalb muss die Kommunikation und die Diskussion über Europa auf der nationalen Ebene stattfinden. Die Lehre, die ich nicht nur aus dem irischen Votum, sondern aus vielen Jahren Erfahrung mit Europa ziehe, ist: Wenn die nationalen Eliten in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich, sei es Politik, Gesellschaft oder Wirtschaft, nicht für Europa eintreten, dann kann man nicht erwarten, dass eine breite öffentliche Meinung zugunsten Europas entsteht. Schon gar nicht, wenn die Debatte nach dem Schema verläuft: Alles, was schlecht ist, kommt aus Brüssel und alles, was gut ist, haben wir gemacht. Als Mitglied der Europäischen Kommission muss man auch mal als Sündenbock für Dinge herhalten, für die die nationalen Regierungen nicht gern die Verantwortung übernehmen. Aber das ist in Ordnung, darüber beklage ich mich nicht. Wohl aber darüber, dass einfach nicht begriffen wird, dass Europa heute mehr ist als das Friedensprojekt, als das es gestartet ist. Das wird es immer bleiben müssen, aber im 21. Jahrhundert haben wir noch eine ganz andere Aufgabe: Es geht darum, Europa richtig zu positionieren in einer sich grundlegend verändernden Welt. Wir haben es ja nicht nur mit einer wirtschaftlichen Globalisierung zu tun, mit neuen ökonomischen Supermächten, sondern mit einer Welt, die politisch wieder multipolar wird. Für uns als Europäer ist die große Frage: Schaffen wir es, unsere ökonomische Stärke in politischen Einfluss zu übertragen? Letztlich geht es um die Behauptung unserer europäischen Lebensform.

Das scheint schwer vermittelbar zu sein... Verheugen: Das ist eigentlich gar nicht schwer zu vermitteln. Wenn ich mit den Menschen über die direkten Auswirkungen der Globalisierung auf das Leben jedes einzelnen rede und darüber, was wir machen, um das so zu gestalten, dass wir weder unseren Lebensstandard noch unsere hohen Sozial- und Umweltstandards aufgeben müssen, finden die Leute das faszinierend. Es ist auch nicht schwer zu erklären, warum die europäische Integration nicht einfach sein kann. Sie ist deshalb so kompliziert, weil wir uns bewusst dafür entschieden haben, eine Gemeinschaft zu sein, ohne die Nationalstaaten abzuschaffen.

Die Bedenken der Iren waren absehbar, nach dem dort bereits der Vertrag von Nizza im ersten Anlauf gescheitert ist. Warum wird erst jetzt über einen Plan B diskutiert? Verheugen: Der Vertrag von Lissabon ist der Plan B. Er ist die Alternative zu der Verfassung, die in den Niederlanden und in Frankreich gescheitert ist. Wenn man einen internationalen Vertrag zu ratifizieren hat, und um mehr geht es ja nicht, dann kann man den Leuten doch nicht sagen: Wenn ihr das nicht wollt, machen wir etwas anderes. Die Regierungen haben das vorgelegt, was sie für richtig und notwendig hielten.

Sie lehnen einen Rauswurf der Iren genauso strikt ab wie Zugeständnisse an einzelne Länder. Heißt die Lösung abstimmen, bis alle Ja sagen? Verheugen: Ein Rauswurf als Bestrafung dafür, dass ein Volk von seinem demokratischen Recht Gebrauch macht, ist eine unvertretbare Idee. Aber man kann den Iren auch nicht sagen: Hinsetzen und weitermachen. Insbesondere deshalb nicht, weil man ja auch den Niederländern und Franzosen nach den gescheiterten Verfassungsreferenden nicht gesagt hat, sie müssten es noch einmal versuchen. Mir scheint, dass die Iren jetzt selber etwas ratlos sind. Was sie tun werden, weiß heute niemand. Man muss Irland jetzt Zeit geben. Bei früheren Verträgen hat man, wenn ein Land damit Schwierigkeiten hatte, gelegentlich von der Methode des sogenannten "Opt-out" Gebrauch gemacht. Das heißt, dass bestimmte neue Politikfelder für einzelne Länder ausgeklammert wurden. Etwa bei der Außen- und Sicherheitspolitik oder bei der Innen- und Rechtspolitik. Aber jetzt geht es nicht um neue Politikfelder, sondern um Entscheidungsverfahren und Institutionen, also um die internen Spielregeln. Ich weiß nicht, wie eine Institution funktionieren soll, wenn in ihr für die Mitglieder unterschiedliche Regeln gelten.

Solange der Lissabon-Vertrag nicht ratifiziert ist, gilt der alte Nizza-Vertrag, von dem es schon damals hieß, es habe Schwächen und sei nur ein temporär tragbarer Kompromiss. Ist die EU noch handlungsfähig? Verheugen: Der Vertrag von Nizza hat dieselben Schwächen wie die Vorläuferverträge von Maastricht und Amsterdam. Europa bricht deshalb aber nicht zusammen. Wir haben einige Jahre mit dem Vertrag von Nizza gelebt. Es ist nicht so, dass wir politikunfähig wären. Die Kommission und das Parlament sind in ihrer Arbeit überhaupt nicht beeinträchtigt. Wir haben eine vertragliche Grundlage, aber die reicht nicht für die Zukunft. Wir brauchen etwas Besseres.

Nicolas Sarkozy hat damit gedroht, Kroatien den Beitritt zu verwehren, sollte bis zum Jahresende keine Einigung erzielt werden. Spiegelt die Drohung auch die Angst vor einer Überdehnung der EU wider? Verheugen: Diese Frage steht natürlich auch im Hintergrund der ganzen Debatte -- davor kann man die Augen nicht verschließen. Dass ich der Meinung bin, dass die Erweiterung ein großer Erfolg für Europa war, wird Sie nicht überraschen. Der Erweiterungsprozess wird weitergehen. Wir sind jetzt wieder bei der uralten Frage, was zuerst kommen soll: die Reform oder die Erweiterung. Ich habe immer den französischen Standpunkt für richtig gehalten, dass die Reform zuerst kommen sollte -- aber es ging nicht. Und wir konnten die Völker in Mittel- und Osteuropa nicht länger hinhalten. Die Verhandlungen mit Kroatien sind zwar weit fortgeschritten, aber ich bin sicher, dass wir das durch das irische Referendum geschaffene Problem gelöst haben werden, ehe es zum Beitritt kommt. Die drohende Überdehnung ist kein neues Argument. Aber wir schaffen ja kein Imperium und auch keinen Staat. Europa ist ein freiwilliger Zusammenschluss. Wir werden es in Zukunft mit Wirtschaftsräumen zu tun haben, die jeweils deutlich mehr als eine Milliarde Verbraucher umfassen. In Europa sind es heute weniger als die Hälfte. Ich sage ganz klar: Europa wird zu klein sein in 20, 25 Jahren. Jede Vergrößerung des Binnenmarktes macht uns ökonomisch und politisch stärker, nicht schwächer.

Erschwert das irische Votum die Beitrittbemühungen der Türkei? Verheugen: Nein, da gibt es keinen Zusammenhang. Die Verhandlungen mit der Türkei laufen und sind trotz vielfacher Ankündigungen von allen möglichen Seiten weder verlangsamt noch gestoppt worden. Sie werden aber noch relativ viel Zeit brauchen und ich möchte heute keine Spekulationen darüber anstellen, wohin der Prozess führt. Aber für unsere politische und ökonomische Zukunft ist es absolut zentral, dass die Türkei fest im Lager der westlichen Demokratien verankert ist.

Sie haben einer EU-Reform ohne die Iren, wie sie Außenminister Steinmeier ins Gespräch gebracht hat, eine Absage erteilt. Ist ein Europa der zwei Geschwindigkeiten nicht längst Realität?Den Euro haben auch noch nicht alle Mitgliedsländer eingeführt. Verheugen: Ja, es gibt bereits zwei Geschwindigkeiten in Europa, etwa bei der Währungsunion, beim Schengen-Raum und bei Teilen der Innen- und Rechtspolitik. Aber das bringt mich nicht dazu zu sagen, dass das gut ist. Ich sehe darin kein erstrebenswertes Modell, es erleichtert die europäische Politik nicht.

Die Bundesregierung arbeitet daran, die Bürokratiekosten zu senken. Sie haben einen "Small Business Act" angekündigt, wollen kleine und mittlere Unternehmen von Bürokratiekosten entlasten. Wie groß schätzen Sie das Entlastungspotenzial für die Unternehmen ein? Verheugen: Der in dieser Woche von der Kommission vorgelegte "Small Business Act" geht viel weiter. Die Entlastung kleinerer und mittlerer Unternehmen ist nur ein Teil dessen. Im Übrigen läuft dieses Projekt schon seit mehr als zwei Jahren. Es bezieht sich nicht nur auf kleinere Unternehmen. Das Ziel ist, die Bürokratiekosten für Unternehmen um durchschnittlich 25 Prozent zu reduzieren. Wir sind im Augenblick dabei, in ganz Europa die tatsächlichen Bürokratiekosten zu messen. Das ist etwas, was es noch nie gegeben hat. Wir wollen in der Lage sein, genau zu beziffern, welche Vorschriften in einem Unternehmen welche Kosten verursachen. An der Stelle kommt dann auch die berühmte Stoiber-Gruppe ins Spiel. Sie soll uns beraten, weil das Leute aus der Praxis sind. Insgesamt rechnen wir damit, dass der Bürokratiekostenabbau für die europäische Volkswirtschaft zu einem Wachstumsschub von 1,4 bis 1,5 Prozent führen wird.

Zu viel Bürokratie gilt als ein zentraler Kritikpunkt an der EU. Wie verträgt sich Ihre Initiative mit der Tatsache, dass Brüssel zugleich immer mehr eigene Verwaltungen in vielen Mitgliedsstaaten --- allein seit 2000 sind 24 der 35 Agenturen mit 4500 Mitarbeitern und einem Gesamtbudget von 1,3 Milliarden Euro entstanden -- aufbaut? Verheugen: Die Agenturen sind kostengünstiger als die Zentralisierung in den Generaldirektionen der Kommission. Es ist vernünftig, nicht alles zentral aus Brüssel zu steuern. Was hier gemacht wird, ist nichts anderes, als das System von Bundes- und Landesbehörden in Deutschland, das für die Umsetzung gleichförmiger Vorgänge zuständig ist. Die Agenturen sind über ganz Europa verteilt und wirken so dem Entstehen eines wirklichen Molochs in Brüssel entgegen.

Das Gespräch führte Klaus Bohlmann

Quelle: Landeszeitung Lüneburg

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