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Bewaffnete Geister wieder einfangen

Archivmeldung vom 26.08.2011

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 26.08.2011 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Bild: VOA - Phil Ittner / de.wikipedia.org
Bild: VOA - Phil Ittner / de.wikipedia.org

In Libyen wird weiter gekämpft. Noch immer leisten Gaddafi-Getreue erbitterten Widerstand. Eine britische Spezialeinheit sucht zusammen mit den Rebellen nach Gaddafi. Droht beim Neuanfang ein neuer Sumpf aus Korruption und Bürgerkrieg wie im Irak? Nahost-Experte Prof. Udo Steinbach schließt das nicht aus, ist aber vorsichtig optimistisch.

Die arabischen Völker schütteln ihre Herrscher ab. Holt die Region die Demokratisierungswelle nach, die Osteuropa in den neunziger Jahren erfasst hatte, oder entsteht etwas Neues?

Prof. Dr. Udo Steinbach: Die Dynamik ist vergleichbar. Aber die Voraussetzungen sind unendlich viel schlechter als seinerzeit in Osteuropa. Dort bestanden klare Machtverhältnisse und klare Herrschaftsstrukturen, die transformiert werden konnten in Demokratie. Zudem gab es damals -- anders als jetzt in den arabischen Ländern -- eine enorme auswärtige Hilfestellung. Ein entscheidender Unterschied ist zudem, dass das Konzept der Demokratie in Osteuropa nicht fremd war, sondern nur verschüttet. Die aktuelle Dynamik allerdings erinnert an diese Revolutionsphase. In Arabien suchen die Völker nach neuen Ordnungen, nach Alternativen zu den autokratischen Regimen. Es mangelt aber an Strukturen, auf denen eine Demokratisierung aufbauen könnte. Die kulturellen Traditionen eines Landes wie Libyen sind derartig demokratiefern, dass man am Ende der Entwicklung nicht mit einer Demokratie nach Westminster-Standards rechnen sollte.

Hat Demokratie in einer Stammesgesellschaft, die in 140 Stämme zerfällt, überhaupt eine Chance?

Prof. Steinbach: Das schließt sich nicht grundsätzlich aus, da auch ein Stamm demokratieähnlichen Prinzipien folgt. Kein Scheich kann herrschen ohne ausreichende Legitimation -- also ohne die Unterstützung durch die Mehrheit des Stammes. Wir haben es im Jemen erlebt, bevor dieser auch von der arabischen Rebellion erfasst wurde: Dort wurde eine Synthese geschaffen zwischen Stammeswesen und Mehrheitsabstimmungen samt politischen Parteien. Das hat im jemenitischen Parlament über eine Reihe von Jahren gut funktioniert. Ähnlich wird man auch in Libyen nach einem Kompromiss suchen müssen zwischen der starken Stellung der Stämme und der Tatsache, dass sie dennoch nur einer von vielen Faktoren sind -- etwa einer stark gewachsenen städtischen Bevölkerung. Libyen hat sich sogar unter Gaddafi in gesellschaftlicher Hinsicht sehr differenziert und pluralisiert. Ich bin daher nicht pessimistisch, dass ein derartiger Kompromiss gefunden werden kann. Nur wird am Ende keine Demokratie nach westlichem Vorbild stehen.

Welche Hindernisse stehen Libyen für eine friedliche Entwicklung im Weg?

Prof. Steinbach: Das größte Hindernis wird das Sicherheitsproblem sein. Anders als in den anderen arabischen Rebellionen ist hier die Opposition erstmals bewaffnet und hat das Regime in einem blutigen Bürgerkrieg hinweggefegt. Das ist nicht mal im Jemen so abgelaufen, wo die Opposition waffenlos war. Für Libyen stellt sich die Frage, wie die bewaffneten Geis"ter wieder eingefangen werden können, die man aus der Flasche ließ. Wird es zu einer Fortsetzung der Kämpfe mit Anhängern des alten Regimes im Widerstand kommen? Kommt es zu Abrechnungen der Rebellen mit den Gaddafi-Gefolgsleuten? Waffen gibt es in jedem Haushalt. Begründungen, sie sprechen zu lassen, sind ebenso zahlreich. Deshalb liegt hier die erste große Herausforderung der neuen Machthaber.

Droht ohne die eiserne Klammer der Diktatur ein Bürgerkrieg wie in Afghanistan oder im Irak?

Prof. Steinbach: Auszuschließen ist das nicht. Aber ich erwarte eher, dass dies den Libyern erspart bleibt. Im Irak sind große Teile der sunnitischen Minderheit gegen die neue schiitische Führung und natürlich gegen die amerikanische Besatzung aufgestanden. Weder eine derart historisch belastete konfessionelle Spaltung noch eine ausländische Besatzung haben wir in Libyen. Zudem muss vermieden werden, die Fehler, die im Irak gemacht wurden, zu wiederholen. Fatal war etwa die Auflösung der Sicherheitskräfte im Irak mit dem Argument, dass sie dem alten Regime zu nahe stünden. Das entstehende Sicherheitsvakuum spielte denen in die Hände, die auf Terror setzen. Die Lehre daraus lautet, dass man die Sicherheitskräfte in Libyen so weit wie möglich intakt lässt -- durchaus auch unter Einbeziehung der Anhänger Gaddafis.

Gibt es Chancen, dass die Arabisierungspolitik beendet wird?

Prof. Steinbach: Das ist die Voraussetzung für jede Form von Stabilität. Gaddafis Arabisierungskurs war nackte Repression der Berber-Stämme. Jede künftige Stabilität wird davon abhängen, inwieweit die Eigentümlichkeit und die Rechte von ethnischen Minderheiten gewährleistet werden. Dieser Schutz muss Verfassungsrang erhalten, anderenfalls wird es bewaffnete Konflikte geben. Neben der Notwendigkeit, die Unterdrückung der Minderheiten zu beenden, muss auch die Rolle der Religion in dem neuen Staat festgelegt werden.

Werden die Tuareg für ihren militärischen Anteil am Sturz Gaddafis Autonomie einfordern?

Prof. Steinbach: Sie werden sicherlich gleiche Rechte in ethnischer, kultureller und sprachlicher Hinsicht einfordern. Das würde ich nicht unbedingt schon unter der Rubrik Autonomie fassen. Und sicherlich werden sie einen angemessenen Anteil an den Erdöleinkünften Libyens verlangen. Das steht ihnen auch zu -- nicht nur als Bürger Libyens, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass große Teile der Erdölförderung in ihrem Lebensraum erfolgen. Die Berber haben eine Reihe von Anliegen, die in der neuen Struktur berücksichtigt werden müssen, wenn das ganze Gebilde stabil sein soll.

Kann der Erdölreichtum Libyens zum Fluch werden? Das Konkurrieren von Konzernen und Staaten -- unter ihnen auch China -- um neue Lizenzen fördert die Korruption...

Prof. Steinbach: Dieses Szenario ist nicht unrealistisch. Ein Vorbild dafür ist erneut der Irak. Im Norden des Staates -- in der Kurdenregion -- erleben wir bei Ölförderung und -verkauf einen wahren Wildwuchs. Es kam ständig zu Konflikten zwischen dem kurdischen Norden und der Zentralregierung in Bagdad um die gerechte Verteilung der Profite. Eine ähnliche Entwicklung könnte auch Libyen nehmen, wenn es keine Lehre zieht aus der Entwicklung im Irak. Sinnvoll wäre, wenn die Zentralregierung sofort eine starke Hand auf die Produktion und den Verkauf des Erdöls legt. Eine Haltung, die den Libyern nicht fremd ist. Gaddafi war einer der ersten, der Anfang der 70er-Jahre die Erdölindustrie verstaatlichte. Entscheidend wird sein, ob die Zentralregierung die wesentlichen Faktoren für Stabilität in den Griff bekommt: die Verwaltung, das Militär und die Ölwirtschaft. Über die Verteilung der Ölprofite können gewissermaßen auch demokratische Effekte erzeugt werden: Künftig ist es nicht mehr die Stammeszugehörigkeit oder die Nähe zum Despoten, die über die Verteilung von Einnahmen entscheidet. Künftig sollen alle Libyer vom Ölreichtum profitieren. Wenn das in der Verteilungspolitik vermittelt werden kann, ist es ein starkes Werkzeug, um Loyalität zu erzeugen.

Die NATO erzielte einen Erfolg, indem sie sich zur Luftwaffe der Rebellen machte. Folgt nun eine Intervention in Syrien?

Prof. Steinbach: Nein, das können wir ausschließen. Die Diskussionen in den Haupstädten sind in dieser Hinsicht eindeutig: Man sieht, dass die Situation in Syrien sich massiv von der in Libyen unterscheidet. Zudem war das NATO-Unternehmen alles andere als ein militärisches Glanzstück. Hier häufte sich im Bündnis eher Frustration als Triumphgefühl auf. Ganz abgesehen davon lehnen die syrischen Rebellen eine ausländische militärische Intervention noch ab, während die libyschen Rebellen die NATO zu Hilfe gerufen hatte.

Quelle: Landeszeitung Lüneburg (Interview Joachim Zießler) / (ots)

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