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Sozialhistoriker Promberger zur Hartz-IV-Debatte: Wir müssen uns den Sozialstaat leisten

Archivmeldung vom 19.02.2010

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 19.02.2010 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Obwohl die Reichen Träger "spätrömischer Dekadenz" waren und nicht die Armen, wittert FDP-Chef Guido Westerwelle in den Hartz-IV-Ghettos den Keim des Niedergangs. Was ist dran an der Kritik, die soziale Hängematte sei allzu bequem. Unsere Zeitung sprach mit dem Sozialhistoriker Dr. Markus Promberger vom Forschungsinstitut IAB der Bundesagentur für Arbeit.

Leisten wir uns eine soziale Hängematte, die eine Abqualifizierung als spätrömische Dekadenz rechtfertigt?

Dr. Markus Promberger: Nein, natürlich nicht.

Wie würden Sie unseren Sozialstaat klassifizieren?

Dr. Promberger: Was wir uns leisten, ist eine halbwegs angemessene Grundversorgung von Hilfebedürftigen. Aufpassen müssen wir beim Existenzminimum allerdings, dass wir die Menschenwürde und die Teilhabechancen Betroffener tatsächlich immer wahren. Das schließt zum Beispiel ein, dass sich jemand Nachhilfe für seine Kinder auch dann leisten können muss, wenn er Hartz IV bekommt. Das ist bisher nicht immer so. Kulturelle Teilhabe, Bildung und die Unterstützung von Familien sind Defizite im bisherigen System. Das heißt, dass wir in der Grundsicherung sogar mehr machen müssten als bisher. Die Notwendigkeit hat uns das Bundesverfassungsgericht ganz deutlich aufgezeigt.

Also wäre die Einschätzung, Arbeit lohne sich in Deutschland nicht mehr, verkehrt?

Dr. Promberger: Das ist ein anderes Thema. Da geht es um den Lohnabstand. Ich denke, wir haben in Deutschland tatsächlich das Problem, dass sich vor allem gering qualifizierte Arbeit nicht so wirklich lohnt. Das liegt aber nicht daran, dass das Niveau der Sozialhilfe beziehungsweise des Arbeitslosengeldes II zu hoch wäre. Wir haben im Bereich einfacher Arbeit mittlerweile oft derart niedrige Löhne, dass mehr als eine Million Menschen ihr niedriges Erwerbseinkommen mit Grundsicherungsleistungen aufstocken müssen, weil es sonst zum Leben einfach nicht reicht. Diese sogenannten Aufstocker sind der beste Beweis dafür, dass die Menschen trotz Hilfebezug arbeiten. In der Lohnabstandsdiskussion steckt auch viel Ideologie. Dabei wird übrigens oft vergessen, dass es eine ethische Untergrenze für den Lohn gibt -- nämlich das kulturelle Existenzminimum. Wer arbeitet, sollte von seiner Arbeit auch ohne weitere Hilfeleistungen leben können. Die geringen Löhne für einfache Arbeit sind der Skandal, nicht die Höhe der Grundsicherung.

Sollte man eher über einen Mindestlohn nachdenken als über Kürzungen von Hartz IV?

Dr. Promberger: Das denke ich schon. Ein solcher Mindestlohn würde zum einen den Lohnabstand aufrechterhalten und zum anderen die Chance erhöhen, von seinem Erwerbseinkommen wieder leben zu können.

Macht eine Generaldebatte im Bundestag Sinn, dreieinhalb Jahre nach der großen Unterschicht-Debatte?

Dr. Promberger: Ich denke, eine Generaldebatte darüber, was eine angemessene Grundsicherung ist, wäre gut. Das würde die Politik davon abhalten, wieder solche Hinterzimmerberechnungen durchzuführen wie seinerzeit beim Hartz-IV-Regelsatz. Dabei müsste berücksichtigt werden, was aus wissenschaftlicher Perspektive eine angemessene Grundsicherung ist und wie sich diese finanzieren lässt. Es ist Aufgabe der Politik, zu überprüfen, ob solche Maßnahmen zu unserem System passen. Da wir aber eine soziale Marktwirtschaft haben, sollten wir den Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes ernst nehmen, die Grundrechte auf ein menschenwürdiges Leben und soziale Sicherheit umzusetzen. Das sollte die Politik endlich tun.

Wird sie das denn tun oder wieder in einer Begriffsdiskussion hängenbleiben? Damals "abgehängtes Prekariat" oder "Unterschicht" -- heute "Dekadenz".

Dr. Promberger: Ich sehe die Gefahr, dass sich populistische Argumente in der Diskussion immer leicht nach vorne spielen -- etwa "Arbeitszwang für Grundsicherungsempfänger". Tatsächlich sind die meisten Grundsicherungsempfänger daran interessiert, etwas zu tun, selbst, wenn sie sich dafür strecken müssen. Es sind die wenigsten, die den Sozialstaat planmäßig für ihre Zwecke ausbeuten.

Guido Westerwelle will Sozialleistungen zielgenauer fließen lassen. Werden Hartz-IV-Leistungen ungerecht verteilt?

Dr. Promberger: Das kann ich nicht erkennen. Stellen wir allerdings die Frage, ob Kinder aus benachteiligten Familien realistische Chancen haben, einen Bildungsnachteil auszugleichen, erkennen wir eine wirkliche Ungerechtigkeit im bisherigen System. Hier gibt es einen blinden Fleck: Wie können wir Kinder fördern? Wie können wir Frauen fördern, dass sie Familie und Beruf unter einen Hut bekommen können? Diese Ungerechtigkeiten sollten wir unter die Lupe nehmen.

In diese Richtung wiesen ja auch die VerfassungshüterEUR.EUR.EUR.

Dr. Promberger: Darauf wies Karlsruhe hin, darauf weisen sowohl linke als auch christdemokratische Sozialpolitiker hin, das sagen auch die großen Sozialverbände. Ich erkenne da einen Konsens, der sich allerdings vernehmlicher artikulieren müsste, um sich gegen populistische Arbeitslager- und Hängematten-Polemik durchzusetzen.

Der Sozialetat schluckt die Hälfte des Bundesetats. Können wir uns den Sozialstaat in dieser Form noch leisten?

Dr. Promberger: Das müssen wir. Denken Sie an frühkapitalistische Marktwirtschaften vor Ausbildung des Sozialstaates. Gewalttätige Konflikte innerhalb der Gesellschaft waren an der Tagesordnung. Selbst wenn man in die dysfunktionalen Ecken moderner Sozialstaaten blickt, etwa in die Migranten-Ghettos in den Pariser Vorstädten, erkennt man Gewalt, Kriminalität und Exklusion. Beschneiden wir den Sozialstaat, weil wir meinen, wir könnten ihn uns nicht mehr leisten, holen uns Ausgrenzung und Sicherheitsfragen wieder ein. Man erkennt es in den USA, wo rund zehn Prozent der afroamerikanischen Bevölkerung im Knast sitzen. Ob Gefängnisse eine akzeptable Sozialpolitik sind, wage ich zu bezweifeln. Da lobe ich mir Hartz IV, auch wenn es entwicklungsbedürftig ist.

Gefängnis mag keine günstigere Sozialpolitik sein, ist es gute Bildungspolitik?

Dr. Promberger: Ja, davon bin ich fest überzeugt. Vielen Menschen gelingt es nicht mehr, mit dem wirtschaftlichen Wandel Schritt zu halten. Sie haben mit 17/18 Jahren einen Ausbildungsberuf erlernt, knapp 30 Jahre in einer Fabrik gearbeitet und stehen auf der Straße, wenn diese Fabrik dicht macht. Die Jobs, in denen geringer qualifizierte, gewerbliche Arbeitnehmer in den vergangenen vier Jahrzehnten gearbeitet haben, werden immer weniger. Das heißt, wir müssen "lebenslanges Lernen" als Standard auch für Geringqualifizierte etablieren. Und wir müssen die Aufholchancen von Kindern aus bildungsfernen Familien erhöhen. Letztlich brauchen wir ein anderes Schulsystem und gezieltere Förderungen. Was etwa Kinder auf Gymnasien an zusätzlichem Coaching von ihren Eltern oder Nachhilfelehrern erhalten, ist von ärmeren, bildungsschwächeren Familien nicht zu stemmen.

Macht mangelhafte Bildungspolitik Armut erblich?

Dr. Promberger: Ja. Das Risiko von Arbeitslosigkeit und Armut ist bei Menschen mit geringer Schul- und Berufsbildung viel höher, als bei besser Ausgebildeten. Und die Wahrscheinlichkeit, dass diese Bildungsarmut auch auf die Kinder vererbt wird, ist in Deutschland von allen Industrienationen am höchsten.

Verdrängt die aufgeregte Hartz-IV-Debatte, dass gerade anspruchslose Jobs der Globalisierung zum Opfer fallen?

Dr. Promberger: Es ist richtig, dass die anspruchslosen industriellen Jobs weniger werden. Chancen gibt es in dieser Hinsicht aber nach wie vor im Dienstleistungssektor. Dennoch bleibt eine expansive Bildungspolitik der Königsweg, um mehr Menschen die Chance zu geben, in vernünftiger Weise am Erwerbsleben zu partizipieren. Hamburger verkaufen oder zu putzen sollte nicht die Lebensperspektive sein. Deshalb sollte allen Menschen die Chance eröffnet werden, ihre Anlagen zu entwickeln.

Wie könnte lebenslanges Lernen für Geringqualifizierte aussehen?

Dr. Promberger: Einerseits müssten Jugendliche mit geringwertigen Schulabschlüssen intensiver gefördert werden. Andererseits scheint vielversprechend, früher zu intervenieren -- etwa in der Grundschule, falls sich Schüler lernschwach zeigen. Wir brauchen ebenso eine Ganztagsschule, in der Kinder am Nachmittag durch Hausaufgabenbetreuung die Möglichkeit haben, die ererbten Bildungsnachteile zu kompensieren. Dann kommen die Jugendlichen schon mit besseren Voraussetzungen in den Beruf. Dort muss das Lernen dann natürlich weitergehen, teils in speziellen Einrichtungen, teils im Betrieb, und mit passenden Anreizen. Meine Idee ist immer, Berufsschulen, Fachschulen und Hochschulen zu Einrichtungen auszubauen, die Bildungszeiten auch für Arbeitnehmer jeden Alters gestalten und frisches Wissen für erfahrene Leute produzieren. Einige Unis fangen bereits damit an.

Quelle: Landeszeitung Lüneburg (Interview Joachim Zießler)

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