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Parteienforscher Prof. Lothar Probst: Westerwelle, ein Parteichef auf Abruf

Archivmeldung vom 01.04.2011

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 01.04.2011 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Dr. Guido Westerwelle  Bild: Dr. Guido Westerwelle
Dr. Guido Westerwelle Bild: Dr. Guido Westerwelle

Dieser Wahlsonntag wird einen Platz in den Geschichtsbüchern erhalten. Erstmals eroberten die Grünen das Amt des Ministerpräsidenten. Und dies im Südwesten der Republik, den sowohl Konservative als auch Liberale als ihr Kernland betrachten. Der Bremer Parteienforscher Prof. Probst ist sicher: Dieser Wahltag offenbarte langfristige Verschiebungen im deutschen Politikgefüge.

Ein grüner Ministerpräsident im Kernland der beiden bürgerlichen Parteien. Hat der jüngste Wahlsonntag die politische Landschaft nachhaltig verändert oder erleben wir eine bloße Momentaufnahme?

Prof. Lothar Probst: Bisher gab es in der Bundesrepublik nur Wechsel zwischen Minis"terpräsidenten der beiden großen Volksparteien. Der Wechsel von einem "schwarzen" zu einem grünen Ministerpräsidenten ist ein absolutes Novum. Zudem hat das Ergebnis die Parteienlandschaft umgepflügt. Dass die SPD in Baden-Württemberg zweiter Sieger hinter den Grünen wurde, ist eine Erfahrung, die sie bisher nur in den ostdeutschen Ländern mit der Linkspartei machen musste. Und die Union hat erneut die Macht in einem wichtigen Bundesland verloren: letztes Jahr Nordrhein-Westfalen, jetzt Baden-Württemberg --- beide mit je sechs Stimmen im Bundesrat. Das sind Veränderungen, die die Tektonik des Parteiensys"tems nachhaltig beeinflussen werden.

Muss Wahlsieger Kretschmann nach 58 Jahren CDU-Herrschaft in Stuttgart die Obstruktion einer konservativen Ministerialbürokratie überwinden?

Prof. Probst: In der Verwaltung sitzen Leute, die es gewohnt sind, einer konservativen Regierungspartei zuzuarbeiten. Das ist ein harter Brocken für Winfried Kretschmann -- einer von vielen: Wie kommt er aus dem Projekt ,,Stuttgart 21" heraus? Gelingt ihm die Energiewende in einem Land mit einer starken Atomlobby? Wie kommt er mit einem Koalitionspartner klar, der sich auf Augenhöhe wähnt? Und wie hält er die konservativen Wählerschichten bei Laune, die dieses Mal "grün" gewählt haben? Wenn jemand diese Herkulesaufgaben bewältigen kann, dann ist er es in seiner ruhigen Art, dem Motto von Johannes Rau nacheifernd: "Zusammenführen statt spalten".

Können sich die Grünen auch zu Tode siegen? Die Erwartungen dürften ins Unrealistische steigen.

Prof. Probst: Nein, denn so schnell dürfte sich dieser Erfolg nicht wiederholen. Am ehesten noch in Bremen, wo die Grünen laut Umfragen die CDU als zweitstärkste Kraft ablösen könnten. Der Vorstoß in neue Dimensionen wird die Politik der Grünen aber verändern müssen. Schließlich befinden sich unter den 25 Prozent Wählern auch viele, die in vielen Fragen nicht auf einer Linie mit dem Grünen-Programm sind.

Die einen feiern trotz historischem Stimmen-Tiefststand, die anderen trauern trotz geringer Verluste. Wer sind die wahren Gewinner und Verlierer der beiden Wahlen?

Prof. Probst: Die Gewinner sind natürlich die Grünen. Aber auch die Union hat sich eigentlich ganz achtbar geschlagen. Die Verluste in Baden-Württemberg sind angesichts der Umstände nicht so dramatisch, wie die CDU befürchtet hat -- in Rheinland-Pfalz hat sie sogar zugelegt. Für die SPD war dieser Wahlsonntag kein Erfolg. Zehn Prozent Verlust in Rheinland-Pfalz zeugen von einem Abnutzungseffekt nach 16 Jahren Kurt Beck und der Quittung für hausgemachte Skandale. Das Wahljahr hatte mit Hamburg für die SPD gut begonnen, doch wer als Volkspartei hinter den Grünen einläuft, ist wieder auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Der Hauptverlierer des letzten Wahlsonntags ist die FDP. Ihr Absturz spiegelt den desolaten Zustand der Partei wider. Die Führungsfrage ist ungeklärt und ständige inhaltliche Schwenks haben der Glaubwürdigkeit geschadet. Seit der Bundestagswahl 2009 mit dem grandiosen Wahlergebnis von 15 Prozent hat die Partei den Kredit bei ihren Wählern total verspielt. Auch der Siegeszug der Linken im Westen ist zum Stillstand gekommen. In den relativ wohlhabenden südlichen Bundesländern findet die Linke kaum Resonanz für ihre stark auf soziale Gerechtigkeit verengten Parolen. Und Kommunismus-Debatten, wie sie Gesine Lötzsch angezettelt hat, kommen dort erst recht nicht gut an. 

Ist Fukushima wirklich das alles erklärende Phänomen oder verändert sich das Grundgefüge des Parteiensystems?

Prof. Probst: Die Atomkatastrophe in Japan hat die seit langem feststellbaren tektonischen Verschiebungen situativ verstärkt. Seit Jahren lässt die Integrationsfähigkeit der Volksparteien nach -- sie verlieren kontinuierlich Mitglieder und Wähler. Ihre traditionellen Wählermilieus erodieren. Das lässt sich an der sinkenden Zahl der Kirchgänger und gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten ablesen. Außerdem sind die Wähler der Mitte --- Angestellte, Beamte sowie Selbstständige in der Kreativwirtschaft, in Humandienstleistungen und im Bereich der neuen Technologien -- wählerischer und sprunghafter geworden. Ein zunehmend größerer Teil der Wähler geht schließlich in die Wahlenthaltung. Dass die Wahlbeteiligung am letzten Wahlsonntag gestiegen ist, war eine absolute Ausnahme und verdankt sich der Tatsache, dass die als lebenswichtig empfundene Frage der weiteren Atompolitik viele Nichtwähler mobilisiert hat. Die Veränderungen im Parteiengefüge kann man auch daran erkennen, dass die Regierungsbildung immer schwieriger wird und zu neuen Experimenten führt: Rot-Rot, Schwarz-Grün, Jamaika und jetzt Grün-Rot.

Wie kann die SPD ihren Absturz bremsen? Soll sie mit der Linken um den Weg zu sozialer Gerechtigkeit rangeln oder mit der CDU um die Mitte?

Prof. Probst: Wenn die SPD als Volkspartei überleben will, hat sie keine andere Alternative, als mit der CDU um die Wähler der Mitte zu kämpfen. Der Wahlsieg von Olaf Scholz in Hamburg war in dieser Hinsicht beispielhaft. Er verband wirtschaftliche Kompetenz, glaubwürdig repräsentiert vom IHK-Präses Frank Horch, mit sozialer Gerechtigkeit, etwa dem Versprechen gebührenfreier Kitas.

Grüne Ideen sind weit ins Bürgertum vorgedrungen. Muss die Union grüner werden oder sich im Gegenteil auf ihren konservativen Kern besinnen?

Prof. Probst: Der Rückzug auf den konservativen Kern würde der Union nicht weiterhelfen. In der Familienpolitik hat Frau von der Leyen die Parteien weit geöffnet für Positionen, die bisher von SPD und Grünen vertreten wurden. In der Wehrpflicht hat Ex-Minister zu Guttenberg die Wende eingeläutet, die de Maizière jetzt weiterführen muss. Die Union hat in vielen Fragen ganz klassische Positionen des Konservatismus geräumt, weil die Wähler in der Mitte gewonnen werden müssen. Unterdurchschnittliche Unterstützung erfährt die Union in urbanen Zentren, unter Jungwählern und Frauen. Treu bleiben ihr vor allem die Wähler jenseits der 60. Bei dieser klassischen Klientel und ihren Kernwählern punktet die Union nach wie vor mit den Themen Zuwanderung, Kriminalititätsbekämpfung und innere Sicherheit.

Wird Guido Westerwelle der erste Außenminister, dem das Amt keine Bonuspunkte einbringt?

Prof. Probst: Danach sieht es aus. Selbst der Grüne Joschka Fischer hat es geschafft, als Außenminister zu einem der beliebtesten Politiker zu werden. Dass Westerwelle in der Sympathieskala ganz unten rangiert, liegt auch an seinem Zickzackkurs -- etwa aktuell in der Libyen-Krise. Die Enthaltung im Verein mit Russland und China sorgt bei gestandenen Außenpolitikern für Kopfschütteln und bei der eigenen Wählerschaft für Verunsicherung. Weil er weder als Parteichef noch als Außenminister Profil gewinnen konnte, gehe ich davon aus, dass sich seine Zeit als Parteivorsitzender dem Ende nähert und wir in diesem Jahr noch einen neuen FDP-Chef erleben werden.

Atomausstieg statt Hotelier-Steuergeschenke -- ist das der Weg zurück zur 15-Prozent-Partei?

Prof. Probst: Das glaube ich nicht. Dass die FDP jetzt versucht, die Grünen links zu überholen beim Atomausstieg, ist nicht glaubwürdig. Noch vor vier Monaten hat Wirtschaftsminister Brüderle davor gewarnt, dass die Lichter ausgehen, wenn wir auf die Atomkraft verzichten. Diese radikale Wende riecht danach, dass die Liberalen nur auf einen Zug aufspringen wollen, um sich zu retten. Darüber hinaus ist die Position der FDP in der Koalition geschwächt, sodass Finanzminister Schäuble kaum die Schatulle öffnen wird, um Steuersenkungen zu spendieren.

Ist es Zufall, dass mit der Linken die zweite Partei abgestraft wurde, die in Libyen auf einen pazifistischen Kurs drängte oder spielte das bei den Landtagswahlen keine Rolle?

Prof. Probst: Das hat meines Erachtens keine wichtige Rolle gespielt. Die Libyen-Politik hat allenfalls die allgemeine Verunsicherung in der CDU- und FDP-Wählerschaft noch verstärkt. Das entscheidende Thema war die Katastrophe in Japan und die Energiepolitik. Wahrscheinlich hätte es ohne Fukushima für CDU und FDP in Baden-Württemberg sogar gereicht. Doch die Spekulation ist müßig, denn alle mussten auf das Desaster reagieren. Durch die unnötige Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke hatte sich die Regierungskoalition selbst ins Abseits manövriert. Jetzt muss sie zurückrudern -- eine Verlängerung der Laufzeiten wird es nicht mehr geben.

Quelle: Landeszeitung Lüneburg (Das Interview führte Joachim Zießler)

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