Inge Hannemann tritt bei Die Linke aus und rechnet ab
Archivmeldung vom 09.09.2020
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Freigeschaltet durch André Ott"Mit diesem Schreiben möchte ich ein wenig meinen Austritt aus der Partei DIE LINKE. begründen. Es umfasst, schon aus Lesefreudigkeit, nicht alle politischen Themen, sondern Einzelpunkte aus Sicht kaum mehr berücksichtigten Gruppen durch DIE LINKE. und die Position der LINKEn. Das Schreiben hat auch nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Analyse, sondern stellt vielmehr ein persönliches Empfinden und für mich einen fast aussichtslosen politischen Kampf „für etwas“ durch meine Person dar", schreibt Inge Hannemann in ihrer Presseerklärung.
Weiter schreibt Hannemann: „Gib mir was, was ich wählen kann – Demokratie ohne Langzeitarbeitslose?“ titelt ein Buch der „Denkfabrik – Forum für Menschen am Rande Sozialunternehmen – Neue Arbeit gGmbH Stuttgart“. Es ist nichts neues, wenn ich schreibe, dass sich die soziale Ungleichheit auch im Wahlverhalten zeigt.
Das Wahlverhalten
schrumpfte unter dem Status „arbeitslos“ innerhalb der LINKE um über
die Hälfte innerhalb der letzten 11 Jahre. Wählten mit der Zweitstimme
bei den Bundestagswahlen 2009 noch 31 Prozent der „Arbeitslosen“ die
LINKE., waren es 2013 zehn Prozent weniger (21 Prozent) und bei der
letzten Bundestagswahl 2017 nur noch 15 Prozent. Das sind Zahlen, die
uns als Partei DIE LINKE. eigentlich erschrecken sollte und gleichzeitig
dazu motivieren müsste diese Gruppe primär erneut in den Blick zu
nehmen. Das sehe ich kaum noch. Die Debatten, die ungleich ebenso
wichtig sind, um Rassismus, Wohnen, Gender, Abtreibung oder das Sichern
von Arbeitsplätzen nahmen in den letzten Jahren eine zunehmende Rolle
bei den LINKEn ein. Dabei wird scheinbar nicht bemerkt, wer primär für
die Sicherung von Arbeitsplätzen plädiert oder die Beratung auf
Augenhöhe in den Jobcentern fordert, dass man selbst im System der
Selbstausbeutung des prekären Arbeitsmarktes feststeckt. Und damit
gleichzeitig den (Selbst)-Wert eines Menschen davon abhängig macht.
Damit verschwindet die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit immer mehr im Hintergrund. Es ist in meinen Augen nicht ausreichend, wenn 1x jährlich zwar ein Treffen der Aktivisten der Erwerbslosenszene und Verbände im Bundestag ausgerichtet wird, jedoch gleichzeitig der Fetischismus einer sozialen Teilhabe zwangsverbunden mit einer abhängigen Beschäftigung proklamiert wird. Eine linke Politik muss die Klassenfrage aller in den Vordergrund stellen – unabhängig des Status, der Bildung, der Religion, der Herkunft oder der Art einer Beschäftigung, bzw. Nicht-abhängige-Beschäftigung. Linke Politik strebt eine Gleichwertigkeit und Gleichheit aller Menschen an (bzw. sie geht davon aus) und möchte, dass alle Menschen gleiche Lebenschancen, Rechte und Freiheit haben. Sie muss sozial-ökonomisch kritisch sein und gleichzeitig das Kapital und den Kapitalismus kritisch betrachten. Weiterhin ist es die Aufgabe sich in Bündnissen fest zu verankern, um den in Teilen intransparente Kokon des Bundestags aufzubrechen.
Es ist nicht ausreichend politische Verantwortung auf Bündnisse oder Sozialverbände abzugeben, um den eigentlichen Markenkern „Soziales“ selbst zu verringern. Linke Politik organisiert und mobilisiert. Es ist zu einfach den Eindruck zu erwecken, dass die Basis, je nach Aufstellung und Stärke der Kreis-, und Landesverbände, diese Arbeit übernimmt und mit Sitzen auf kommunaler Ebene vertritt. Es ist auch zu einfach zu sagen, dass sich ja jede/r politisch engagieren kann, um seine Punkte auf der politischen Ebene zu vertreten. Wenn es so wäre, dann würden die Parteien vor lauter Engagement aus allen Nähten platzen.
Ich stelle fest, dass die Empathie gegenüber Menschen, die aus der Gesellschaft „draußen“ sind auch bei den Linken zunehmend verloren geht. Ja, sie sind nicht immer einfach (aber wer ist das schon). Es sind für mich inakzeptable Verhaltensweisen und Haltungen, wenn Forderungen in einem Klassismus enden: „Kinder, Frauen und Familien drohen die Verlierer der Corona-Krise zu werden“. Mag es links rüberkommen, wird auf die Weise suggeriert, dass alle anderen Gruppen, insbesondere die Erwerbslosen oder sonstige nicht abhängig Beschäftigten keine Verlierer der Corona-Krise sind. Der Antrag auf einen Corona-Zuschlag für Erwerbslose im Bundestag wird somit negiert und hinterlässt eine Ausgrenzung der Gruppe der Sozialleistungsberechtigten. Und ich hier bei dem Punkt bin, dass gerade – nicht „konforme“ Gruppen – sich von den Linken im Stich gelassen fühlen. Ich habe keine Antworten mehr, wenn mich auf der Straße, wenn mich bundesweite Emails, Anrufe oder Nachrichten via Soziale Netzwerke erreichen, die nach dem verlorenen gegangen Engagement der Linken gegenüber Erwerbslosen, prekär Beschäftigten, Menschen mit Behinderung, Sozialleistungsberechtigten oder Erwerbsunfähigen suchen und fragen.
Armut und Ausgrenzung sind nun mal keine Merkmale um sich lauter oder wirksamer wehren zu können. Arm sein, in Teilen vereinsamt in der Wohnung zu sitzen oder die physische und psychische Kraft verloren zu haben, gehen oftmals damit einher, sich nicht zu zeigen. Es geht hier auch nicht um Befindlichkeiten der von Armut Betroffenen und meiner Person. Es geht darum, dass ich mir die Frage stelle: „Ja, wo sind sie denn, DIE LINKE.?“ Eine Gleichwertigkeit und Gleichheit aller Menschen sehe ich hier nicht mehr. Und ein lautstarkes Einsetzen für diese Menschen durch DIE LINKE-, die diese Kräfte nicht mehr haben, leider ebenso wenig.
Mir fehlen die physischen Kräfte für etwas zu kämpfen, wenn ich die
politische Unterstützung nicht erhalte und stattdessen der Wunsch
herangetragen wird, doch etwas leiser zu sein. Nein, das werde ich
natürlich nicht tun – aber, es geht auch parteilos. Wenn
Profilierungssucht oder Kompetenzgerangel Überhand nehmen, läuft etwas
gewaltig schief. Dafür sind mir meine Mitmenschen zu wichtig, als mich
diesen Auseinandersetzungen hinzugeben. Und wenn von Armut Betroffene
nicht mehr bereit sind Kompromisse einzugehen, trage ich dieses mit. Es
ist deren berechtigte Forderung gleichberechtigt gesehen und behandelt
zu werden. Und es ist kein Demokratieunverständnis-, oder Unfähigkeit
diese Forderungen einzufordern. Es ist ihr legitimer Anspruch gegenüber
linker Politik.
Quelle: Inge Hannemann