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Im Glashaus – vom Realitätsverlust der Volksvertreter

Archivmeldung vom 08.12.2010

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 08.12.2010 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Bild: Gerd Altmann / pixelio.de
Bild: Gerd Altmann / pixelio.de

Der bekannte Buchautor und Reiseveranstalter Thomas Ritter berichtete heute in einer Mitteilung über seine Gedanken zum aktuellen politischen System der Republik und seinen Akteuren. Die ExtremNews Redaktion hat nachfolgend den Originaltext in voller Länge veröffentlicht.

Solidarität und Gemeinschaftssinn sind diesem Land schon längst abhanden gekommen. Nun folgen in rasantem Tempo die moralischen und ethischen Normen nach, welche jahrzehntelang das Zusammenleben der Menschen in der westlichen Hemisphäre prägten. Am Ende des ersten Jahrzehnts des Dritten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung triumphieren „Bailouts“, „Bankenrettungsschirme“ und vor allem weitestgehend ungehemmter Eigennutz. Menschen und Dinge scheinen nur noch eine Existenzberechtigung zu besitzen, wenn sie sich auch entsprechend „rechnen“, mit anderen Worten, möglichst kurzfristig Profit abwerfen. „Shareholder value“ und „Flexibilität“ sind die Zauberworte dieses sogenannten „neuen globalen Denkens“, welches Geld und materiellen Besitz als die einzigen Maßstab des „Erfolges“ anerkennt, an dem der Einzelne gemessen wird. Produziert und verkauft wird nur das, was größtmöglichen Gewinn in kürzester Zeit verspricht.

Wir definieren uns nicht mehr über das Sein, sondern ausschließlich über das Haben. Die selbstverständliche Folge einer solchen Haltung ist, dass wir immer mehr haben wollen, um „etwas zu sein“. Ständig neue Bedürfnisse zu wecken, um sie ebenso rasch zu befriedigen und durch wiederum neue, von außen suggerierte Wünsche abzulösen, dies gilt als der Motor des Fortschritts, der angeblich unsere Gesellschaft unaufhörlich und mit immer höherem Tempo vorwärts treibt. Schon längst haben die meisten aufgehört zu fragen, wohin dieser Weg des Fortschritts denn überhaupt führen soll. In der Bewegung allein, im ständig neu angeheizten Konsum im internet-verkabelten „Globalen Dorf“ oder der Scheinbefriedigung einer stets durch den Verlust des Arbeitsplatzes bedrohten „Karriere“ erschöpfen sich heutige „Zukunftsvisionen“.

Allenthalben mehren sich deshalb die Zeichen, dass dieser Trend wohl einen katastrophalen Irrläufer der menschlichen Entwicklungsgeschichte darstellt. Nicht nur die zunehmende Verflachung im geistigen Leben mag Anlass zur Sorge bieten - viel auffälliger, da für jedermann auf einfache Weise erfahrbar, sind die Zerstörung der Natur und die fortschreitende Plünderung der Ressourcen des Planeten für die Aufrechterhaltung des Wohlstandes eines immer kleiner werdenden Bruchteils der Weltbevölkerung. Die Missachtung der natürlichen Umwelt als Urgrund auch unseres Seins setzt sich in den sozialen Beziehungen der Individuen unserer postindustriellen Gesellschaft fort. Wer rücksichtslosen Ellenbogeneinsatz als Leistungsbereitschaft prämiert, Konkurrenz und Verdrängung der Konkurrenten zum alles beherrschenden Prinzip in sämtlichen Lebensbereichen erhebt und dies mit dem Begriff von der Freiheit des Individuums garniert, muss sich nicht wundern, wenn eskalierende Gewalt, soziale Kälte und zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft an der Tagesordnung sind. Die Wirtschaft hat sich schon längst von den Korrektiven einer nationalstaatlich ausgerichteten Politik verabschiedet und nimmt zunehmend eben diese Politik unter den Vorzeichen einer „Globalisierung“ in neomachiavellistische Geiselhaft. Der Globalisierungsprozess dient nicht einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen, sondern nur dem rücksichtslosen Profitstreben weniger multinational organisierter Untenehmen und deren Eigentümern.

Unsere Politiker dienen nicht mehr dem Volk. Die Politik in der Bundesrepublik des Jahres 2010 hat sich verselbständigt. Etablierte Politiker leben in einer Scheinwelt. Sie berauschen sich an ihrer eigenen vermeintlichen Bedeutung, schwelgen in dem trügerischen Gefühl, die Welt verändern zu können. Sie nehmen nicht mehr wahr, dass Politik eben nicht das gesamte Leben ist. Normale Bürger lesen Bücher, sehen fern, treiben Sport, kümmern sich um ihre Familie, treffen Freunde, haben Hobbies – der sogenannte Staatsmann kennt von morgens bis abends nur seine Politik, um die sich alles dreht – sein Denken, sein Tagesablauf, seine Träume und Phantasien. Dieser Wirklichkeitsverlust ist die Folge einer Sucht – der Sucht nach Macht und Anerkennung. Eine solche Sucht kann meines Erachtens aber nur dann entstehen, wenn sich das System, in dem Politiker tätig sind, von seinen ursprünglichen Aufgaben abwendet, und sich verselbständigt. Dann kreisen die Akteure schließlich nur noch um sich selbst und ihre vermeintliche Bedeutung. 

Wer in die Politik geht, sollte reich an Lebenserfahrung sein. Doch dies ist immer seltener der Fall. Diejenigen, die wenig Selbstbewusstsein haben, weil es nicht im tätigen, realen Leben erprobt wurde, sind besonders anfällig für die von außen herbeigeholte Aufwertung der eigenen Person; öffentliche und mediale Aufmerksamkeit, Statussymbole - vom Dienstwagen bis hin zum Personenschutz. Bei genauer Betrachtung erkennt man, dass sich dieser Trend insbesondere in den letzten Jahren durch den Einfluss der Medien enorm verstärkt hat. Doch es wäre falsch, den Medien allein die Schuld zuzuweisen. Auch die Politikerpersönlichkeiten haben sich verändert. Die Lebensumstände der Weimarer Republik, der Kriegs- und Nachkriegszeit haben alle Menschen geprägt und gefordert, in einem Maße, wie dies heute glücklicherweise nicht mehr der Fall ist. Durch Bombardements, Flucht, Hunger und Vertreibung wurde jeder gezwungen, sich existenziell zu behaupten. Wer danach Politiker wurde oder in der Politik blieb, war gestählt, gehärtet, ein fertiger Mensch mit innerer Struktur. Heute beziehen Leute Ämter, denen zu Hause und an der Universität jegliche Härte des Lebens erspart geblieben ist. Sensible, engagierte, ehrgeizige junge Menschen sind es manchmal, denen es nicht an Talenten mangelt, sondern an der Alltagserfahrung über die Rangeleien im Parteiortsverein hinaus.

Zwar hält unser Leben in der Wohlstandsgesellschaft auch schwierige Aufgaben und unbequeme Herausforderungen bereit, doch es bietet auch zahlreiche Fluchtwege an. Es war nie so einfach wie heute, sich zu drücken, wenn es wirklich einmal kompliziert wird. Der gesamte politische Betrieb dieses Landes ist eine Einladung zur Flucht vor der Wirklichkeit. Die Welt des Politikers von heute ist voller „Sachzwänge“. Arbeit, Talkshowauftritte und Termine können solche Drogen für Politikerpersönlichkeiten sein. Sie machen süchtig, wie jede Droge. Doch süchtig werden nur Menschen, die eine innere Leere füllen müssen. Davon gibt es heute viele. Ihnen fehlt das, was in unserer multimedialen Öffentlichkeit gern als „Sekundärtugenden“ verspottet wird – Glaube, Ideale, Sinn, Sicherheit, Pflichtbewusstsein, Verantwortung und Loyalität. Dagegen bastelt die Wirtschaft Traumwelten, in denen Ersatz für das Eigentliche angeboten wird: Konsum als erste Bürgerpflicht, „Supertalente“, „Superstars“ allenthalben und die Lüge von den „blühenden Landschaften“ etwa. Der Schritt in die Sucht ist klein. Doch eine Sucht ist immer zerstörerisch. Nicht nur die Sucht nach chemischen Mitteln, nach Alkohol oder Nikotin. Suchtexperten kennen auch „personale oder apersonale Mittel“ als Drogen – etwa das Hyperengagement in der Arbeit, Beifall, Erfolg. Das ist der Stoff, aus dem die Drogen der Politjunkies sind. Sucht verselbständigt sich. Die Droge muss zunehmend stärker dosiert werden, nimmt mehr und mehr vom eigenen Leben Besitz. Bei den „Wichtigkeitsdrogen“ wie Wolfgang Thierse weitsichtig die Sucht nach Macht und Anerkennung bezeichnet, dauert der persönliche Verfall etwas länger, ist von der Wirkung her aber gleich – und früher oder später ebenso sichtbar. Eine solche Sucht ist vor allem daran erkennbar, dass die Betroffenen nicht aufhören können. Helmut Kohl ist ein gutes Beispiel dafür, aber auch Oskar Lafontaine und Gregor Gysi. Sie brauchen die Droge Aufmerksamkeit, wenn sie in den kommenden Monaten wieder als müde, erschöpfte Wahlkämpfer im Namen ihrer selbst unterwegs sind. Hält den zusammengesunkenen Gestalten jemand ein Mikrofon unter die Nase, dann schießen sie plötzlich hoch. Das ist, als ob sie einen Kick erhalten. Sie leuchten auf, erstrahlen im Blitzlichtgewitter. Licht an, Typ da. So ging es auch Horst Seehofer, dem Ex-Gesundheitsminister, der seinen Körper absolut ruinös behandelte, obwohl doch gerade er in Sachen Gesundheitsvorsorge etwas bewirken wollte in diesem Land. Wenn einer meiner Überzeugung nach nicht krank sein sollte, dann ist es der Gesundheitsminister. Tatsächlich aber trieb ihn seine Überzeugung, die Welt aus den Angeln heben zu können, und sich dabei von nichts umwerfen zu lassen, an den Rand des Todes. Doch kaum konnte er das Krankenbett wieder verlassen, da registrierte Seehofer, „wie sehr es ihn zurückgedrängt habe nach den Berliner Geschäften“. Immerhin ist er ehrlich und spricht jetzt offen aus, dass er die Politik für eine Sucht hält. Doch er macht weiter, wenn auch „dosiert“. Die Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit hat ihn geschockt, ebenso wie Peter Struck, der auch nicht aufhören konnte. Es sei die Frage erlaubt, was das für Menschen sind, die wegen ein wenig Beifall ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Warum sollen ihre Wähler glauben, diese Politiker würden die Deutschen besser behandeln, wenn es denen schlecht geht?

Doch offensichtlich ist dies für die Politiker kein Thema, da sie sich im Laufe ihrer Amtszeiten ohnehin einen emotionalen Schutzpanzer zulegen. Die Kanzler dieser Republik sind sich im Laufe der Jahre immer ähnlicher geworden, doch dies ist auch nicht verwunderlich, da Personen in solchen Ämtern sich stets bedroht fühlen. Nicht so sehr von Attentätern, sondern vor allem von den eigenen Leuten. Angela Merkel etwa ist binnen kürzester Frist zum absoluten Kontrollfreak mutiert. Sie will alles im Griff haben und über alle möglichst alles wissen. Die scheinbar pointierte Steigerung „Feind – Todfeind – Parteifreund“ ist in Wirklichkeit schon lange politische Alltagsrealität.

Doch auf diese Weise lässt sich Deutschland sicher nicht „fit für die Zukunft“ machen, wie dies in markigen Reden von den Vertretern der etablierten Parteien immer wieder beschworen wird. Die Bürger zeigen den Politikjunkies inzwischen nicht nur bei jeder Wahl die rote Karte, sondern auch auf der Straße. Stuttgart 21 und das Wendland sind nur die Spitze des Eisbergs. Mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten findet nicht mehr den Weg in die Wahllokale. Über die „Politikverdrossenheit“ ist von den Politikern ebenso wie von selbst ernannten Experten oft und lange räsoniert worden. Beschimpft wurde vor allem das Wahlvolk, dem die anstehenden „Reformen“ noch „besser erklärt“ werden müssten, so als ob sich die Menschen nicht schon lange ein eigenes Bild vom desaströsen Zustand der Republik gemacht hätten. Es ist in der Tat bedenklich, dass ein fundamentales Recht wie das Wahlrecht, für dessen uneingeschränkte Ausübung vor etwa 20 Jahren Millionen in den noch immer sogenannten „neuen Bundesländern“ auf die Straße gingen, heute von mehr als der Hälfte der deutschen Wahlberechtigten nicht mehr wahrgenommen wird. Sind diese Bürger also zu politikmüden, spaßversessenen Dumpfbacken im „kollektiven Freizeitpark Deutschland“ mutiert? Sicherlich nicht. Die Nichtwähler stellen derzeit den weitsichtigeren Teil der Bevölkerung. Sie haben begriffen, dass rot-grün oder schwarz-gelb und eben auch eine große Koalition nur verschiedene Verpackungen für ein und denselben unappetitlichen Inhalt sind, dass es bei einer Wahl derzeit nur die Entscheidung zwischen Pest und Cholera gibt, nur noch darüber abgestimmt wird, welche Partei im Namen der Globalisierer die nächsten Einschnitte in das soziale Netz vollzieht. Die Nichtwähler fühlen sich von keiner der etablierten Parteien mehr vertreten, da sie das Vertrauen in diese gesellschaftlichen Kräfte aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahrzehnte gründlich verloren haben. Diese Tatsache sollte sehr nachdenklich stimmen. Wenn einer parlamentarischen Demokratie die Wähler in Scharen davonlaufen, dann ist dies ein Ausdruck dafür, dass mit dem System etwas nicht stimmt. Konsequenterweise gehört dieses System dann verändert oder erneuert, nicht nur „reformiert“, damit es das Vertrauen der Menschen dieses Landes zurückgewinnt. Eine solche Erneuerung kann aber nur im Interesse der Mehrheit der Bürger unserer Republik erfolgen, und eben nicht im Interesse von selbsternannten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder politischen Eliten, die nur ihre persönlichen Ziele zu Lasten der Allgemeinheit verfolgen. Nur wenn es sich auch im Glashaus der Politik herumspricht, dass Volksvertreter Dienstleister in der modernen Bürgergesellschaft und nicht Herrscher mit feudalistischen Attitüden sind, wird eine solche Erneuerung des politischen Systems gelingen. Ob dies freilich mit den etablierten Parteien zu bewerkstelligen ist, darf getrost bezweifelt werden.

Autor: Thomas Ritter / Dresden, Dezember 2010

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